Seit nunmehr fast genau einem Jahr befindet sich der VfL Bochum in einem zuvor ungeahnten Höhenflug. Von der schlechtesten Punktausbeute aller Zweitligisten in den ersten drei Quartalen im Jahr 2019 hat sich die Mannschaft auf Platz 1 der Jahrestabelle 2020 geschoben und bestätigt auch zu Beginn des Jahres 2021 die positive Formkurve. Der Aufstieg in die 1. Bundesliga scheint seit langer Zeit wieder greifbar und während wir gespannt von Woche zu Woche mit unserem VfL fiebern, ertappe ich mich selbst häufig bei der Frage, was wir jetzt so viel besser machen als all die Jahre zuvor. Was genau ist jetzt anders und wo liegen die Ursachen für unseren erfreulichen Aufschwung?
Am 17.02.2020 verlor der VfL Bochum gegen den VfB Stuttgart zu Hause mit 0:1. An sich war das gegen eine Mannschaft wie den VfB Stuttgart wahrlich kein besonderes Ereignis, doch stellte gerade dieses Ergebnis in vielerlei Hinsicht einen Wendepunkt für den VfL Bochum dar. Nach einem komplett verkorksten Kalenderjahr 2019 war dieses Spiel bereits die dritte Niederlage aus den ersten vier Pflichtspielen im Jahr 2020. Der VfL Bochum befand sich – mal wieder – in einem gefährlichen Abwärtsstrudel und ein drohender Abstieg machte sich in den Gedanken vieler breit. Auch der (Profi-) Trainerneuling Thomas Reis schien vorzeitig beim VfL gescheitert zu sein. Nur wenige glaubten zu diesem Zeitpunkt noch an die Wende unter des einst so beliebten Vorzeigeprofis des VfL. Doch nach diesem Spiel sollte sich das Schicksal des VfL erstmal seit Jahren des Leidens zum Positiven wenden. Gegen Dresden konnten auswärts durch einen späten Treffer in der Nachspielzeit wichtige drei Punkte eingefahren werden und das sollte nur den Anfang einer langen Welle des Erfolges einleiten. Seit dem Wendepunkt in Stuttgart hat der VfL insgesamt weitere 34 Spiele in der 2. Bundesliga bestritten. Die Bilanz: Mit insgesamt 19 Siegen, 8 Unentschieden und lediglich 7 Niederlagen konnte der VfL ganze 65 Punkte einfahren. Eine Bilanz, die auf eine Saison gerechnet häufig den Aufstieg bedeuten würde. Doch was genau hat sich seit eben jenem Spiel in Stuttgart so grundlegend geändert?
Der Erfolg lässt sich nicht an einer Änderung festmachen
Die Erfolgsformel im Fußball ist häufig denkbar einfach: Spielt die eigene Mannschaft besser mit und gegen den Ball als der Gegner, gewinnt sie zumeist auch die Partien. Besser oder schlechter lässt sich dabei wohl am besten an den „expected goals“, heißt an den zu erwartenden Toren, beider Mannschaften festzumachen. In der Tat spiegelt sich der positive Eindruck in der Tabelle auch in dieser Statistik wider. Scheint das Erfolgsrezept denkbar einfach, so ist die Grundlage dafür deutlich vielschichtiger. Die taktische Ausrichtung, personelle Veränderungen in der Mannschaft, der Kampfgeist oder die mentale Sicherheit der einzelnen Spieler sind nur Teilaspekte eines großen Ganzen. Zuerst in den Kopf kommt einen häufig die Prämisse, „bessere Spieler bedeuten auch ein besseres Ergebnis“. Das ist insbesondere bei starken Qualitätsunterschieden zwischen zweier Mannschaften auch ein sehr wichtiger Aspekt. Nur hat man in der 2. Bundesliga nur zu häufig vermeintlich „starke“ Mannschaften im grauen Mittelfeld beobachten können und Underdogs weit oben in der Tabelle. Auf den VfL vor- beziehungsweise nach dem Stuttgart Spiel bezogen, ist die personelle Entwicklung im Kader ohnehin wohl nur ein schwaches Argument. Bis auf mit Robert Zulj, der zweifelslos ein Ausnahmekönner beim VfL ist, hat sich insbesondere in der Startformation in der aktuellen Saison reichlich wenig verändert seit der Hinrunde der vergangenen Saison. Vielmehr scheinen die vorhandenen Spieler allesamt besser zu performen als noch in den Jahren zuvor und auch die Bilanz in den Spielen als Zulj nicht zur Startelf gehörte, gestaltete der VfL positiv für sich (3 Siege, 2 Unentschieden, 2 Niederlagen). Was ist also dann der entscheidende Aspekt des neuen Erfolges?
Die Taktik als Grundstein des Erfolges
Neben dem Personal steht bei den meisten Beobachtern wohl die Taktik im Vordergrund. Wie eine Mannschaft als Ganzes agiert und einen Gegner bespielt ist häufig Resultat der taktischen Marschroute des Trainers. In der Tat konnte man beispielsweise den Verlauf in dieser Saison auch an leichten Veränderungen der taktischen Vorgaben durch Thomas Reis ableiten. Die Einschätzung unseres Taktikexperten Tobias Wagner zeigt, dass wir taktisch zwar immer wieder an einzelnen Stellschrauben drehen, die Grundformation und Philosophie von Thomas Reis jedoch nahezu unberührt blieb seit seinem Amtsantritt. Auch stellt sich die Frage, ob Thomas Reis im Vergleich zu beispielsweise Robin Dutt tatsächlich die Mannschaft taktisch exorbitant viel besser einstellt wie es die Ergebnisse vermuten lassen? Und selbst ein ausgewiesener Taktikexperte à la Gertjan Verbeek kam bei weitem nicht an den Punkteschnitt von Thomas Reis heran.
Gleichzeitig scheint es zumindest am Fernseher so, dass sich Thomas Reis im ein oder anderen Spiel vercoacht hat, zudem relativ stur an seiner Marschrichtung festhält beziehungsweise durch späte Wechsel bessere Ergebnisse teils verhindert hat. Letzteres verdeutlicht sehr gut, dass die Taktik samt Wechsel allein wohl eher nicht Ausschlag über Sieg oder Niederlage gibt. Stand Reis für diese „Sturheit“ in seiner Taktik zu Beginn häufig in der Kritik, ist genau dieses wohl im Moment einer der Schlüssel für den Erfolg. Im Grunde ist es ein Paradoxon, dass dieselben Mittel gänzlich unterschiedliche Konsequenzen mit sich bringen. Bei näherer Betrachtung ist es jedoch womöglich gar nicht so Paradox, wie es auf den ersten Blick scheint. Aus meiner Sicht ist die größte Stärke bei Thomas Reis nämlich eines – er schafft es die Mannschaft perfekt zu motivieren, ihnen Vertrauen zu schenken und dadurch mental den Unterschied zu schaffen.
Die Psyche als wesentlicher Aspekt
Bezieht man dies auf unser Wechsel-Paradoxon so könnte man jetzt psychologisch zu folgendem Schluss kommen: Ist eine Mannschaft mental nicht stabil, so sind Veränderungen auf dem Platz erforderlich – frischer Wind und neue Kräfte bringen größtmöglichen Erfolg. Bleiben diese Wechsel in diesem Fall aus, rächen sich minimale Unsicherheiten und daraus resultierende falsche Entscheidung aufgrund der fehlenden Kraft sofort. Anders verhält es sich wohl bei einer stabilen Mannschaft. Insbesondere die Spieler, auf die Thomas Reis zählt schwimmen momentan auf einer Welle des Erfolges. Während manch Einwechselspieler aktuell nicht dieses Selbstvertrauen besitzt (bestes Beispiel dafür ist Ganvoula) und dadurch eine höhere Fehlerquote in ihrem Spiel aufweisen, haben die Stammspieler größtmögliches Vertrauen in sich selbst. Es macht demnach Sinn in der Regel auf sie zu setzen, solange sie die nötige Fitness auf dem Platz haben. Projiziert man nun diesen schwer messbaren, mentalen Faktor auf die gesamte Amtszeit von Thomas Reis und den Unterschied zu seinem Vorgänger Robin Dutt – so scheint der Wandel zumindest erklärbar.
Unter Robin Dutt lief es zu Beginn beispielsweise auch alles andere als schlecht, dann kamen Gerüchte über schlechte Stimmung im Team auf und die Spieler schienen nicht mehr jeden Meter für den anderen zu gehen. Das eine führte zum anderen und trotz ähnlicher Besetzung geriet die Mannschaft in einen negativen Strudel. Die Ergebnisse passten nicht mehr, die Psyche der Spieler schien angenockt und insbesondere in der Schlussphase der Partien konnten wir teils haarsträubende Fehler beobachten, welche uns viele Punkte kosteten. Insbesondere letzteres ließ sich auch noch zu Beginn der Amtszeit von Thomas Reis beobachten, in der Reis insbesondere den Fokus auf die Kompaktheit der Mannschaft legen wollte um dadurch mehr Sicherheit ins Spiel zu bekommen. In der Winterpause soll es Gerüchten zufolge im Team auch ordentlich gekracht haben. Im Vergleich zum Vorgänger Dutt zog Thomas Reis daraus jedoch seine Konsequenzen: Trotz teils massiver Kritik am Trainer blieben Lee und Blum in wichtigen Spielen fortan zunächst auf der Bank. Die Situation ähnelte im Grunde eins zu eins dem 5. Spieltag in dieser Saison, als völlig unerwartet Blum, Zulj und Ganvoula auf einmal nicht mehr Teil der Startformation waren – auch weil genannte Spieler in den ersten 4 Spieltage deutlich unter ihren Möglichkeiten blieben und im Training nicht den nötigen Einsatz zeigten. Damals wie heute war der Effekt nahezu identisch – die Mannschaft als Ganzes zeigte eine ungewöhnlich starke Reaktion und mittelfristig konnten die Ergebnisse deutlich positiver gestaltet werden. Spieler wie Blum und Zulj scheinen auf einmal mitzuziehen, ja, sie scheinen sich gar zu neuen Vorzeigeprofis zu entwickeln. Das spielerische Potential und die taktischen Vorgaben waren davor schon vorhanden, doch jetzt geht das gesamte Team auch die wichtigen Meter mit nach hinten.
Das Team wirkt mental durch eine stabile Vorgabe sowohl im taktischen, als auch personellen Bereich wieder gefestigt. Stimmung und Moral sind von außen betrachtet an einem neuen Höhepunkt angelangt. Neben der Taktik und den Neuzugängen mag dies wohl der Kern unseres derzeitigen Aufschwungs sein – selbst wenn die mentale Ebene schwer messbar und deshalb für Statistikfans wie mich leider niemals verifizierbar und somit immer spekulativ sein wird.
Das Ganze zählt
Ungeachtet davon geht die Mentalität ohnehin Hand in Hand mit der taktischen Marschroute und dem Potential der einzelnen Spieler. Ohne vernünftige Spieler kann die taktische Marschroute nicht umgesetzt werden. Ohne einen vernünftigen taktischen Plan, können Spiele nur schwerlich gewonnen werden und die Mentalität leidet unter ausbleibenden Erfolgserlebnissen über kurz oder lang. Dies scheint auch Thomas Reis erkannt zu haben, der durch taktische Vorgaben wie beispielsweise ein konsequentes Angriffspressing oder ein kompatkes Stellungsspiel, alle Spieler mental fordert aber gleichzeitig der Mannschaft die größtmögliche Sicherheit vermitteln möchte. Auch das Selbstbewusstsein spiegelt sich in der derzeitigen Taktik wider, so können Führungen häufig mit Ballbesitz in der gegnerischen Hälfte über die Zeit gebracht werden. Fest steht, auch wenn es immer wieder Dämpfer wie jüngst in Aue gibt, reiten Spieler wie auch wir Fans seit einem Jahr auf einer positiven Welle. Bleibt zu hoffen, dass wir diese Welle noch eine ganze Weile gemeinsam weiter reiten.
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