Nach einer herausragenden Saison, die mit dem Double-Sieg endete, ist Bayer Leverkusen nun der Gejagte. Mit einer 2:3-Niederlage in der Nachspielzeit am zweiten Spieltag ging die unglaubliche Serie von 35 ungeschlagenen Spielen in Folge zu Ende. Die letzte Auswärtsniederlage der Werkself bleibt aber immer noch die 3:0-Niederlage anner Castroper am 34. Spieltag der Saison 2021/22. Was hat sich in Leverkusen im Sommer verändert? Im Gespräch mit Jakob Geer, Leverkusen-Fan, vom Youtube-Kanal Manager United.
Wie ist zur Zeit die Stimmung in Leverkusen?
Vorsichtig optimistisch würde ich sagen. Gerade das letzte Bundesligaspiel gegen Stuttgart hat spielerisch an die berauschende letzte Saison erinnert, auch wenn das Ergebnis am Ende nicht gepasst hat. Nach der letzten Saison hatte sich einfach ein gewisser Schlendrian eingeschlichen, man hat den Erfolg als selbstverständlich angesehen und muss alte Automatismen wieder neu erarbeiten und einstudieren. Xabi Alonso hat eine sehr komplexe Vorstellung von erfolgreichem Fußball, die bei den Neuzugängen erst implementiert werden muss. Aber die spielerische Entwicklung passt wieder, wenn man das Liverpool-Debakel ausklammert.
Glaubst Du das Leverkusen erneut bis zum Ende ein ernstzunehmender Kandidat für die Meisterschaft sein wird? Hat sich in Leverkusens Ansatz seit letzter Saison was geändert? Wenn ja, was?
Nein, da war ich aber vermutlich auch vor der Saison deutlich kritischer als die Mehrheit. In der letzten Saison hat einfach jedes Zahnrad perfekt in das andere gegriffen, man hatte oft das Spielglück auf seiner Seite. Man muss hier aber auch einfach realistisch bleiben. Bayern München spielt nach wie vor finanziell in einer völlig eigenen Liga, auch Dortmund hat einen deutlich höheren Etat für den Kader zur Verfügung.
Der Anspruch war und ist die Qualifikation für die Champions League, da ist man durchaus auf Kurs. Alles andere ist ein Bonus, den man nicht einplanen kann und vor allem nicht erwarten sollte. Es sieht eher nach einen Zweikampf zwischen Bayern und Leipzig aus, wobei die Saison noch lang ist und auch die Bayern nicht auf dem Niveau der letzten Saison performen, gerade international. Man darf auch nicht vergessen, dass die Bayern letzte Saison punkttechnisch eine sehr starke Saison gespielt haben, die Leverkusener Saison schlicht herausragend war. Sowas lässt sich einfach nicht reproduzieren, da muss man Realist sein. Der Ansatz ist der gleiche geblieben, auch wenn es vielleicht von außen nicht immer so wirkt.
Wer sind die wichtigsten Neuzugänge bzw. Abgänge?
Bei den Abgängen ist es vor allem die Defensive, die gelitten hat. Mit Josip Stanisic und Odilon Kossounou hat man 2 elementare Bausteine der mit Abstand besten Defensive der vergangenen Saison verloren. Das lässt sich nicht so einfach ersetzen, obwohl Jeanuël Belocian tolle Ansätze in der Innenverteidigung zeigt. Nordi Mukkiele ist diesen Beweis bislang schuldig geblieben.
Aleix Garcia ist grundsätzlich ein toller Mittelfeldspieler, allerdings war die Zentrale mit Granit Xhaka, Robert Andrich und Exequiel Palacios auch vorher schon gut besetzt, er kam eher für die Breite. Offensiv stand eigentlich ein Kreativspieler auf der Wunschliste von Alonso, geholt hat man stattdessen mit Martin Terrier einen Abschluss-Spieler, der in die Tiefe geht. Das ist bislang noch kein wirkliches Match, allerdings muss man ihm hier noch Zeit geben. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass man dieses Vakuum neben Florian Wirtz mit einem Wintertransfer behebt.
Wo hat die Mannschaft noch am meisten Entwicklungspotenzial in dieser Saison?
Schlicht und einfach im Zusammenspiel. Man sieht ja bspw. gegen Stuttgart, dass keiner das Fußballspielen verlernt hat. Aber gewisse Mechanismen greifen nicht mehr wie in der Vorsaison. Die Defensive hat nach dem Wechsel-Drama um Jonathan Tah ihre Souveränität verloren. Auch wenn man in der letzten Saison oft über Wirtz, Victor Boniface und Grimaldo in der Offensive gesprochen hat, der Grundstein der erfolgreichen Saison war die überragende Defensive. Findet sie wieder zu alter Stärke, dann kann auch die Offensive befreiter aufspielen.
Patrik Schick oder Victor Boniface in der ersten Reihe? Und wieso?
Eindeutig Boniface, das ist auch kein knappes Rennen. Victor ist prädestiniert für den anspruchsvollen Kombinationsfußball, bringt grundsätzlich alles mit was sich Alonso von einem Stürmer wünscht. Er ist bullig, schnell, technisch sehr versiert und kann dazu mit beiden Füßen und dem Kopf knipsen. Einzig seine Kaltschnäuzigkeit ist sein großes Manko, die uns Fans ein ums andere Mal in den Wahnsinn treibt.
Patrik Schick dagegen ist, wenn man ehrlich ist, nicht für den Fußball von Alonso geeignet. Er ist ein unfassbar toller Stürmer, der im Gegensatz zu Boniface in Szene gesetzt werden muss und sich die Chancen nicht erarbeitet. Richtet man sein Spiel auf ihn aus – wie damals unter Seoane – dann schenkt er dir 20 Saisontore. Allerdings geht das dann zu Lasten der restlichen Offensive, die unter Alonso deutlich schwerer auszurechnen ist. Hier kann ich mir auch gut vorstellen, dass es im Winter zur Trennung kommt, da Schick als Topverdiener auf der Bank zu schade ist und selber auch den Anspruch hat, immer zu spielen.
Welcher Spieler neben Wirtz wird deiner Meinung nach die höchsten Transfererlöse einspielen?
Hier könnte man einige Spieler nennen, Piero Hincapie, Boniface oder Palacios. Ich würde vom Bauchgefühl allerdings auf Edmond Tapsoba tippen. Hier gab es schon stärkeres Interesse aus England, gerade von Manchester United und Chelsea. Auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht schockieren mag, aber ich halte eine zukünftige Ablöse von mehr als 70 Mio für nicht unrealistisch. Um die wirtschaftliche Zukunft muss man sich zum Glück keine Gedanken machen, der nächste sichere Abgang dürfte wohl Frimpong sein, der eine Ausstiegsklausel über 45 Mio besitzt die zur kommenden. Saison wohl gezogen werden dürfte.
Niederlage in Liverpool, davor in fünf Ligaspielen nur ein Sieg (vier unentschieden). Kommt der VfL zur rechten Zeit?
Das könnte man auf den ersten Blick bestimmt sagen, ich bin aber aus verschiedenen Gründen anderer Meinung. Zum einen sehe ich keine wirkliche Krise bei Leverkusen, zumindest keine spielerische. Gegen Stade Brest hätte man mit etwas weniger Schiedsrichter-Pech gewinnen können oder müssen und gegen Stuttgart wissen nur Boniface und Alexander Nübel, wie man das Spiel nicht gewinnen konnte. Gleichzeitig kann ein Trainerwechsel bei Bochum neue Kräfte freisetzen, ich halte euren Kader auch für gar nicht so verkehrt. Natürlich bleibt Bochum für uns – so ehrlich muss man sein – ein absoluter Pflichtsieg, ohne das in irgendeiner Form despektierlich zu meinen. Aber ich sehe nicht, dass der VfL ein Aufbaugegner ist, im Gegenteil.
Welche Änderungen erwartest Du von Dieter Hecking beim VfL? Kannst Du Dich noch an Spiele gegen Hecking-Teams aus der Vergangenheit erinnern?
Generell habe ich Dieter Hecking als sehr erfahrenen Fuchs in Erinnerung, der gerade zum Ende seiner Trainer-Karriere auch Pech mit seinen Verantwortlichen hatte. Bei Gladbach wurde er damals sehr überraschend nach der Saison gefeuert und auch Hamburg hat sich in der Zeit nach ihm nicht mit Ruhm bekleckert. Hecking ist kein Magier wie Alonso oder Pep, steht für sehr ehrlichen, gradlinigen und kampfbetonten Fußball. Genau das, was der VfL aktuell braucht und was eine wenig verloren gegangen ist.
Eure Neuzugänge haben auf dem Papier bei euch alle sehr ambitioniert gewirkt, aber die Identität des Malocher-Fußballs hat darunter gelitten. Es wird wichtig sein, dass er schnell wieder Stabilität in die Defensive bekommt, das traue ich ihm absolut zu. Manchmal kann ein Schritt zurück zu den Basics auch zwei Schritte nach vorne bedeuten. Es wäre euch sehr zu wünschen.
Was denkst du ist für den VfL in dieser Saison noch drin?
Das Ziel muss Platz 15 sein und das ist auch absolut im Bereich des Möglichen in meinen Augen. Die beiden Aufsteiger und Hoffenheim sehe ich hier wenig überraschend als ärgste Konkurrenz, aber auch die Teams darüber machen keinen stabilen Eindruck.
Die anstehenden beiden Spiele gegen uns und Stuttgart sind natürlich ein knüppelharter Start für Hecking, aber danach kommen bis zur Winterpause nur noch schlagbare Gegner, gegen die gepunktet werden muss. Durch den katastrophalen Start ist es leider nicht unwahrscheinlich, dass ihr selbst bei guten Ergebnissen auf dem letzten Platz überwintert, aber die Konkurrenz muss in Schlagweite bleiben. Wenn man bis zum Winter noch mindestens 9 Punkte aus den anstehenden 6 Spielen holt und den Kader an 1-2 Positionen nachbessern kann, dann sollte die Qualität für einen spannenden Kampf bis zum Saisonfinale reichen, mindestens. Zu wünschen wäre es auch allemal!
Vielen Dank für das Interview!
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