„Natürlich träumen jetzt alle wieder von Europa“

Foto: VfL Bochum

Zum Auftakt der Rückrunde trifft unser VfL Bochum auf die vielleicht größte Überraschung der aktuellen Spielzeit – den VfB Stuttgart. Kamen wir beim ersten Spiel in Stuttgart mit sage und schreibe 0-5 unter die Räder, relativierten die starken Auftritte der Stuttgarter in den folgenden Spielen die Niederlage wieder etwas. Nun wollen wir nochmal einen etwas genaueren Blick auf die Mannschaft aus der Kesselstadt werfen. Im Gespräch mit Rafael Binkowski.

Wie ist die Stimmung derzeit in Stuttgart?

Die Stimmung in Stuttgart ist so gut wie schon lange nicht mehr seit fast 20 Jahren. Nach dem jahrelangen Niedergang, zwei Abstiegen und endlos erscheinendem Abstiegskampf ist der VfB Stuttgart endlich wieder da, wo er historisch gesehen immer war, im vorderen Viertel der Liga. Er spielt begeisternden Offensivfußball und ist auf Augenhöhe mit den Topteams. Der Rückschlag gegen Gladbach war nur ein Ausrutscher, die Mannschaft ist stabil, spielt engagiert und taktsich klug, setzt auf Ballbesitz. Das Stadion ist immer restlos ausverkauft, so viel Euphorie war schon lange nicht mehr.

Der Aderlass zu Beginn der Saison war groß. Auch wenn der VfB sich schon vorher auf einem guten Weg befand, haben die Fans geglaubt man könnte diese Abgänge auffangen?

Ehrlich gesagt – jeder dachte, die Abgänge von Kontantinos Mavropanos, Borna Sosa und Waturo Endo würde die Mannschaft nicht verkraften und man hat sich auf ein weiteres Jahr Abstiegskampf eingestellt. Schon nach wenigen Wochen hieß es aber: Wer sind Mavropanos, Sosa, und Endo? Die sind Vergangenheit. Sebastian Hoeneß ist es gelungen, Spieler mit 27 Jahren noch zu verbessern und ihr wahres Potenzial zu schöpfen. Waldemar Anton, Chris Führich, Atakan Karazor, Angelo Stiller – die waren immer hoch veranlagt, aber der Durchbruch gelang nie. Der Trainer hat alle Spieler besser gemacht. Guirassy ist ein Überflieger geworden, mit Leihen wie Deniz Undav und Alexander Nübel hat man mit wenig Mitteln gute Spieler geholt. Auch Neuzugang Maximilian Mittelstädt hat eingeschlagen – viele hatten Skepsis, doch jetzt ist er ein genialer Schienenspieler geworden.

Sieht man hier eher Hoeneß mit seinem Kontakt zu den Spielern oder Florian Wohlgemuth als Vater des Erfolges bei den Transfers?

Beide sind wichtig. Wohlgemuth hat ein feines Händchen bei den Transfers und fast alle Neuzugänge haben überzeugt. Hoeneß kann das Beste aus allen Spielern herauskitzeln. Entscheidend ist aber, dass sie als Team arbeiten, und nicht wie in der Vergangenheit Vorstand, Trainer und AG ständige Machtkämpfe aufführen und so Sand ins Getriebe kommt. Es regiert wieder Fußball-Sachverstand und nicht eine Show der Eitelkeiten, sportliche Leitung und Management ziehen an eine Strang. Auch das war viele, viele Jahre völlig anders und Teil des Problems. Man denke an den Machtkampf zwischen Thomas Hitzlsperger und Präsident Claus Voigt, ständige Wechsel, Datenschutzaffären, missglückte Hauptversammlungen – es schien, als hätte der VfB die Pest am Hals. Das ist alles weg.

Wie ist die Wahrnehmung der Außendarstellung des Vereins? Ist alles Friede, Freude, Eierkuchen oder gibt es auch kritische Stimmen?

Tatsächlich ist zum ersten Mal wirklich Ruhe. Natürlich hängt das mit den sportlichen Erfolgen zusammen – selbst die kritischen Sportjournalisten schwimmen mit in einer Welle der Euphorie. So wie vorher alles schief gelaufen ist, scheint jetzt fast alles zu gelingen. Die Nachwuchsarbeit trägt wieder Früchte mit guten Talenten, der Stadionumbau bringt noch mehr Vermarktungsmögichkeiten, Porsche und Mercedes als Hauptsponseon stärken das Image und bringen noch einmal mehr finanzielle Mittel. Zur Zeit ist es der beste VfB aller Zeiten – wenn es sportlich nicht mehr so läuft, kommen die schwäbischen Bruddler sicher wieder hervor. Alle hoffen aber, dass man auch dann am Trainer festhält und der Posten nicht wieder zum Schleudersessel wird.

Verfolgst Du Endos Entwicklung unter Jürgen Klopp in Liverpool regelmäßig? Ist er noch Thema unter der Fans?

Endo ist tatsächlich kaum noch ein Thema. Ja, er war der Held des Abstiegskampfes und hat sich damit unsterblich gemacht, aber er ist Vergangenheit wie Klinsmann, Allgöwer oder Mario Gomez. Natürlisch schauen wir, was er in England macht, und anders als Sasa Kalazdzic oder Konstaninos Mavropanos spielt er eine wichtige Rolle unter Jürgen Klopp – das gönnen wir ihm. Aber da der neue VfB so begeistert und Stiller mit Karazor die Lücke mehr als gefüllt haben, ja sogar besser agieren als Endo vorher, vermisst man ihn nicht allzu sehr.

Wie schwer wiegt die Abwesenheit von Ito, Silas, Guirassy?

Ito und Silas wurden sofort ersetzt, da hat der Kader genug Qualität und Tiefe. Mittelstädt hat Itos Platz so gut eingenommen, dass man nach dessen Rückkehr ein Luxusproblem hat. Auf den Flügeln ist mit Jamie Leweling ein guter Ersatz da. Guirassy fehlt natürlich, nicht nur wegen seiner Torgefährlichkeit, seine Präsenz ist enorm und er bindet 2-3 Mitspieler – diese Räume fehlen dem VfB. Undav ist ein guter Ersatz, aber nicht mehr der Qualität.

Derzeit beim Asien-Cup: Hiroki Ito. Foto: Jeollo von VfB-exklusiv.de (Wikimedia Commons)

Was ist die Erwartungshaltung unter den Fans für die restliche Saison? Ist man froh eine sorgenfreie Saison zu spielen oder träumt man heimlich von einem großen Wurf?

Natürlich träumen jetzt alle wieder von Europa, von der Champions League, schließlich war das für den VfB früher fast der Normalfall. Aber man hat auch nicht die schlimmen Jahre vergessen, daher ist eine gewisse Demut schon noch da. Alle hoffen, dass der Aufschwung nachhaltig ist und man endlich wieder im vorderern Drittel dauerhaft zu Gast ist.

Finanzkraft aus dem Ländle gepaart mit sportlichem Erfolg. Rückt der VfB wieder auf zur fußballerischen Spitze in Deutschland?

Das ist die Hoffnung – und die Voraussetzungen waren immer da. Mit 90.000 Mitgliedern hat man eine riesige Fanbase, die starke Wirtschaft im Südwesten hilft – und die Tradition seit 1893 lebt fort. Dazu kommen endlich wieder gute Talente hoch, was die DNA des VfB ist – und historisch gesehen war der VfB immer dann gut, wenn er eigene Spieler zu Stars gemacht hat.

Wie werden die Vertragsverlängerungen von Anton und Milliot gesehen: logische Konsequenz oder doch überraschend die Spieler langfristig binden zu können? – Wie bewertest Du die Entwicklung von Zagadou?

Die Vertragsverlängerungen von Anton und Millot waren wichtige Signale, die den Verein viel Geld kosten. Aber es ist wichtig, dass das Team zusammen bleibt – und auch ein Signal an Guirassy, dass er hier nicht nur gutes Geld verdient, sondern auch Stammkraft ist und sich entwickeln kann. Auch Dan-Axel Zagadou ist so ein Beispiel: hoch veranlagt, aber bei Dortmund zu viel verletzt, jetzt ist er beim VfB der Staubsauger, der alle Bälle abräumt. Ein weiteres Beispiel für den „Bessermacher“ Hoeneß.

Taktikexperten feiern den VfB momentan ab. Viele sagen gar, der VfB wäre taktisch noch interessanter und besser als Leverkusen. Ist das auch in Stuttgart ein Thema oder genießt man eher den Erfolg ohne zu viel über die Gründe nachzudenken?

Über die Taktik wird viel gesprochen – gerade nach der Niederlage fragt die Lokalzeitung „Ist der VfB entschlüsselt?“ Weil Gladbach wie die Bayern sich tief in zwei Abwehrketten gestaffelt haben und dann mit Kontern den VfB überrumpelt haben. Aber Hoeneß ist es immer wieder gelungen, die Gegner zu überraschen und sich taktisch umzstellen. Der Ballbesitzfußball, mit 3er oder 4er-Kette offensiv nach vorne zu spielen, Querpässe nach vorne und lange Chipbälle hinter die gegnerische Abwehr – das begeistert Fans wie Experten.

Macht man sich noch Abstiegssorgen?

Nein, der Abstieg ist kein Thema mehr.

Was erwartest du für das Spiel in Bochum?

In Bochum muss der VfB eine Reaktion zeigen. Wie immer bisher nach Niederlagen wird die Mannschaft zeigen wollen, dass sie kämpfen kann, das gibt Extramotivation. Bochum ist ein unangenehmer Gegner, der tief steht – das macht dem VfB manchmal Probleme. Vermutlich wird sich Hoeneß ein paar Ideen einfallen lassen, um genau diese Situation anders zu gestalten.

Dein Tipp fürs Spiel?

Ich rechne mit einem 2:1 für den VfB Stuttgart.

Vielen Dank für das Interview!

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Autor: Matthias Rauh

Obwohl in Bayern wohnhaft besitze ich eine Dauerkarte beim VfL und versuche, jedes Heimspiel und jedes Auswärtsspiel im Süden vom VfL mitzunehmen. Meine Begeisterung für den VfL entwickelte sich in der Saison 2006/07, endgültig besiegelt wurde sie bei dem eigentlich völlig belanglosen Spiel Karlsruher SC gegen den VfL im Jahr 2008. Während eines Fußballturniers wollten meine Mannschaftskameraden in der Bundesligakonferenz ständig die Zwischenstände von Bayern München und Nürnberg wissen, ich erntete misstrauische Blicke, als ich den Zwischenstand von Bochum wissen wollte. Abstieg, Relegation, Funkel, Neururer... ich bin immer noch dabei und freue mich immer mehr auf Spiele wie Bochum gegen Sandhausen als Bayern gegen Dortmund.

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