Alles absurd! Ein Gastbeitrag von Gerrit Lenssen

Wir werden immer zu dir steh'n! Foto: einsachtvieracht

Gerrit Lenssen, Autor des Buchs „Himmel – Hölle – Fußball“ über den nackten Wahnsinn mit dem VfL Bochum und welche Gedanken ihm während der Rückfahrt vom Auswärtsspiel in Dortmund wieder in den Sinn gekommen sind. Ein Credo, welches wir uns alle stets vor Augen führen sollten.

30. April 2022, 22:45 Uhr. Wir sitzen im Zug zurück nach Hause und werden planmäßig in einer Viertelstunde dort landen, wo wir diesen historischen Tag vor fünfzehn Stunden starteten – zu dem Zeitpunkt ja noch unwissend, was genau da heute so passieren würde. Vor mir in unserem Vierer sehe ich zum einen Lorenz, der sich einen ordentlichen Schluck aus der kompakten Dose Gin Tonic gönnt und noch immer keinen Hauch von Müdigkeit zu verspüren scheint. Und zum anderen Moritz, der gebannt auf sein Smartphone blickt, wobei ihm noch immer der Schweiß über die seit 15:35 feuerroten Wangen läuft. Gleichzeitig verraten seine weit aufgerissenen, leicht glänzenden Augen die ganze Geschichte dieses Tages. Ich auf jeden Fall, ich muss mich nach fünfzehn intensiven Stunden, mindestens sechs davon im völligen Taumel, mal kurz sammeln. Mal kurz für mich sein, runterkommen, bisschen zurückdenken. Mir fällt der 8. Mai 2010 ein. Beziehungsweise besser: Wie Paintball-Treffer, die einen nach und nach und dies merklich kolossaler erwischen, schießt es mir hintereinander in den Kopf: Hannover. Bruggink. Hanke. Pinto. Eine erbärmlich verschenkte kurze Ecke in der Nachspielzeit der ersten Halbzeit, ein Ballverlust, ein Konter, ein Schuss ins Kreuzeck, brennende Fahnen, trauernde Menschen, vor Wut weggeschmissene Schals. Eine stumme Heimfahrt mit meinem Vater.

Es gab Zeiten, da musste man sich zu oft in den Arm nehmen und gegenseitig Trost suchen. Foto: einsachtvieracht

Ich war damals, als wir mit dem 0:3 gegen Hannover 96 desaströs aus der ersten Bundesliga abstiegen, 14 Jahre alt und ging in die achte Klasse. Dinge, die sehr präsent waren: Unreinheiten, Unmengen Haargel, Tafeldienst, Sexualkunde in Bio, Roller Coaster Tycoon 3, Kirmesgeld, Süß-Tüten, Freibad-Pommes, Bolzplatz mit Tetra Pak Eistee. Man diskutierte über Turniere in Südafrika und Brasilien, Lautern stieg in die erste Liga auf, Schalke wurde Zweiter, RB Leipzig kickte in der Oberliga Nordost, Diego Milito schoss Inter Mailand an der Seite von Walter Samuel und Esteban Cambiasso zum Champions-League-Titel. Noch in der Bundesliga aktiv waren Koryphäen wie Levan Kobiashvili, David Jarolim, Rob Friend, Javier Pinola, Dimitar Rangelov, Tranquillo Barnetta oder Stefan Reisinger. Thomas Tuchel trainierte Mainz 05, Michael Oenning den 1. FCN und – logisch – Lorenz-Günther Köstner folgte auf Armin Veh in Wolfsburg. Christian Streich war indes noch nicht Cheftrainer in Freiburg. Und ich? Ich stand also vor meiner ersten Zweitligasaison mit dem VfL. War zunächst am Boden zerstört, doch sagte mir noch während der Sommerpause diesen einen Satz. Diesen einen Satz, der mich nicht nur lange begleiten, nein, für den ich mich bereits nach wenigen Monaten hassen sollte: „Ein Jahr jetzt da durch und dann sind wir im Mai 2011 doch wieder zurück!“

„Gerrit? Alles klar bei dir?“ Lorenz scheint zu bemerken, dass ich nach weit über fünfhundert Minuten Stress, Glück und Rausch gerade mal ein wenig weggetreten bin. Auch Moritz schaut mich ungefähr so verstört an, als hätte ich soeben in einer zweistündigen Rede die Klimakrise verleugnet, dabei versuche ich doch nur mal eben ein bisschen Abstand vom Gegenwartswahnsinn zu erhaschen. Um zu bestätigen, dass es mir soweit gut geht, nicke ich kurz. Und haue mich darauf noch etwas tiefer in den harten Sitz des Regionalzugs, verstecke mich wie eine Schildkröte noch etwas weiter im bierverschmierten Schal und setze meine innerliche Reise fort. Was also folgte auf diesen einen Satz vor der Zweitligasaison 2010/2011?

Nun ja, es folgte die verlorene Relegation. Der um Haaresbreite verhinderte Sinkflug in die Drittklassigkeit. Aufkeimende Hoffnung auf bessere Zeiten – zerschlagen von einer unnötigen 0:1-Heimniederlage wahlweise gegen den VfR Aalen oder dem SSV Jahn Regensburg. Wieder und wieder. Resignieren im seelenlosen Ingolstadt, Sonnenbrand im nicht überdachten Gästeblock von Darmstadt, Zugausfall und notdürftige Übernachtung in Braunschweig.

Es gab empfindliche Tage im Ruhrstadion. Foto: Fabian Budde (Photomafia Bochum)

Wie die Koffer am Gepäckband, so fließen die Gedanken unentwegt durch den sowieso schon rappelvollen Kopf. Ich erinnere mich daran, wie ich Jens Rasiejewski an der Seitenlinie sah und spontan genauso weinen musste wie beim Abstieg. Wie ich die Performance von Johannes Wurtz verfolgte und mich in der Kurve ganz ernsthaft fragte, warum ich es nur bis zur Bezirksliga gepackt habe. Wie ich die Ballannahmen von Marco Stiepermann betrachtete und keinen nennenswerten Unterschied zu denen von Tobias, seines Zeichens der untalentierteste unserer untalentierten Hobbytruppe, feststellen konnte. Wie ich dennoch sang: „Für uns leuchten deine Farben auch in dunklen Tagen hell!“ Jaja, schon klar, aber zur Pause 0:3 gegen „fucking“ Wehen-Wiesbaden zurückliegen ist dann doch ungefähr genauso schön, wie vom Gästeblock in Sandhausen besten Blick auf ein Rentner-Tennismatch zu haben. Oder nach einem 1:3 am Fürther Bahnhof zu stehen und von einem offensichtlich schwer heroinabhängigen Mann irgendwo zwischen 20 und 58 gefragt zu werden, ob denn alles okay bei mir wäre. „Ja!“, reagierte ich. „Bei dir denn?“ – „Ja, auch soweit!“, antwortete er, und ich weiß ehrlich gesagt bis heute nicht, wer von uns beiden damals mehr gelogen hat…

„Gerrit? Gerrit?“ Moritz fuchtelt nun direkt vor meinen Augen mit seinen Armen, tippt mir dann mehrfach und immer hektischer auf den Oberschenkel. „Bist du noch da?!“ „Klar bin ich noch da!“, antworte ich und schließe meinen Rückblick dann auch mal ab. Wird durchaus Zeit, und zudem deutet Moritz ja jetzt schon wieder mehrfach mit dem Kopf auf sein Handy. Ich werfe einen Blick drauf, doch es ist sowieso schon klar, was da läuft: Zum vermutlich achten Mal während der Zugfahrt hat er die Zusammenfassung des heutigen Jahrhundertspiels angeschmissen. Polter per Kopf, Holtmann aus über zwanzig Meter in die Maschen, 2:0-Führung nach acht Minuten im Signal Iduna Park – handgezählte neun Mal habe ich mich in dieser Zeit im Gästeblock nach links gedreht und nachgehakt: „Was, Leute, was passiert hier gerade?“ Ich meine, es gibt so viele Sachen, die ich nie verstehen werde: Französisch trotz sechs Jahre Schulunterricht, Kunst so im Generellen, Stonehenge, Relativitätstheorie, schwarze Löcher, TikTok, Twitch, Davie Selkes Torjubel. Aber das? Dieses 2:0 nach zehn Minuten? Wo und wie genau sollte ich das denn jetzt verpacken?

Er hat für viele (spielerische) Entwicklungen mit den Grundstein gelegt: Gertjan Verbeek. Foto: VfL Bochum 1848

Bevor mein Kopf jedenfalls ganz explodierte traf Erling Haaland dreimal. So, als würde irgendeine übernatürliche Kraft wieder die gewohnte Welt anknipsen. Genug des ganzen Irrsinns, euer Team ist aufgestiegen, ihr habt die Bayern geschlagen, euer Torwart hat euch ins Pokal-Achtelfinale geschossen, einer eurer Spieler hat zweimal Nähe Mittellinie getroffen, ja im Prinzip habt ihr in den letzten Monaten vergessen, dass ihr Anhänger eines Vereins seid, der doch eigentlich deutlich öfter langanhaltende Bauchschmerzen verursacht als unbeschreibliche Glücksgefühle. Was wollt ihr denn noch? Jetzt reicht´s erstmal! Jetzt mal wieder Routine, kommt alle mal wieder runter! Und diese übernatürliche Kraft, sie mag vieles bedacht haben, vielleicht auch verhindern wollen, dass einige Blau-Weiße für unabsehbare Zeit völlig durchdrehen werden. Doch drei Dinge hatte sie halt nicht auf dem Schirm: Das rechte Füßchen vom Jürgen! Das linke Füßchen vom Jürgen! Sowie die Mentalität unseres Teams, das dieses zu keiner einzigen Minute greifbare Spiel nicht nur ausglich, sondern allen Ernstes noch ganz drehte.

Endlich sind wieder an der Sonnenseite des Fußballs. Foto: einsachtvieracht

„Alles absurd einfach!“, schüttelt Lorenz den Kopf, während ich mehrmals zurückspule, um mich einmal, zweimal, dreimal zu versichern, dass das heute Nachmittag wirklich so passiert ist, dass das kein Traum ist, keine kitschige Soap, in die ich hier hineingeraten bin. „Komplett absurd!“, stimmt Moritz ein und lässt sich – bis gerade noch vorgebeugt wie ein fokussierter Linienrichter beim Tennis – genüsslich in den Sitz fallen. „Besser wird’s nicht mehr, Jungs!“ Kurz denke ich über seinen Satz nach. Klassenerhalt. In Dortmund. Mit einem 3:4-Auswärtssieg nach 3:2-Rückstand. Am Maiabend. Eine Stunde im Stadion gefeiert. Noch viel länger im Bermuda. Das alles zwölf Jahre nach Hannover und nur ein paar nach Tiebreaks in Sandhausen, nach dem Smalltalk am Fürther Bahnhof, nach Rasiejewski und Stiepermann.

Endlich wieder richtig gute Laune in der Bundesliga. Foto: VfL Bochum 1848

Natürlich: Moritz hat recht! Es wird, nein: es kann gar nicht mehr besser werden. Weswegen ich im immer leerer werdenden Zug, soeben die vorletzte Haltestelle erreicht, ansetze: „Wenn’s am schönsten ist …“ – „… dann sollte man eigentlich gehen!“, führt Lorenz nach meiner rhetorischen Pause sogleich zu Ende, schaut dabei sentimental runter auf den blau-weißen Schal um seinen Hals. Moritz derweil nickt mit eng zusammengepressten Lippen, fügt dann noch hinzu: „Ohne Witz: Wenn wir konsequent sind und den Spruch ernst nehmen, dann dürften wir wirklich nie mehr ins Stadion!“

„Ja. Nie mehr! Wenn’s am schönsten ist halt …“

„Ja! Wenn’s am schönsten ist!“

Noch ein letztes Mal vor der Ankunft am heimischen Bahnhof erheben wir unsere Getränke, stoßen an, einfach auf alles, was in irgendeiner Weise mit dem VfL zu tun hat, vor allem aber auf den Pakt, auf das „nie mehr Stadion“, das wir zumindest mal für eine Weile vollkommen ernst meinen …

Eine Erinnerung, die uns zukünftig durch schwere Zeiten tragen wird. Foto: einsachtvieracht

… nur, um dann am darauffolgenden Freitag bis kurz vor Mitternacht, gleichsam kurz vor Kapitulation der Stimmbänder, in der Ostkurve zu stehen und den letzten Heimsieg einer unfassbaren Saison zu feiern. Ja verdammt: Es ist schon alles ganz schön absurd! Und auch wenn es natürlich nicht ewig so weitergehen kann; auch wenn wir sehr wahrscheinlich nicht noch einmal die Bayern und den BVB innerhalb von drei Monaten putzen werden; auch wenn es in der schwierigen nächsten Saison vermutlich mehr Rückschläge geben wird, so sollten wir eines nicht vergessen: gemeinsam in guten wie in schlechten Zeiten. Oder anders gesagt: „Für uns leuchten deine Farben auch in dunklen Tagen hell!“

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„Himmel – Hölle – Fußball“ ist eine Hommage an das zugleich schönste und leidigste Spiel der Welt. In 32 Kurzgeschichten verarbeitet Gerrit Lenssen besondere Erlebnisse mit dem VfL Bochum, Legenden des Amateurfußballs sowie denkwürdige Momente abseits des Feldes.
Erhältlich im Buchhandel und überall online; signierte Exemplare direkt beim Autor bestellbar: gerrit-1848@gmx.de

Autor: Matthias Rauh

Obwohl in Bayern wohnhaft besitze ich eine Dauerkarte beim VfL und versuche, jedes Heimspiel und jedes Auswärtsspiel im Süden vom VfL mitzunehmen. Meine Begeisterung für den VfL entwickelte sich in der Saison 2006/07, endgültig besiegelt wurde sie bei dem eigentlich völlig belanglosen Spiel Karlsruher SC gegen den VfL im Jahr 2008. Während eines Fußballturniers wollten meine Mannschaftskameraden in der Bundesligakonferenz ständig die Zwischenstände von Bayern München und Nürnberg wissen, ich erntete misstrauische Blicke, als ich den Zwischenstand von Bochum wissen wollte. Abstieg, Relegation, Funkel, Neururer... ich bin immer noch dabei und freue mich immer mehr auf Spiele wie Bochum gegen Sandhausen als Bayern gegen Dortmund.

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Himmel – Hölle – Fußball: Im Gespräch mit Gerrit Lenssen