Nach nur 9 Spieltagen war die Amtszeit von Ismail Atalan beim VfL bereits beendet. Die Meinungen zu ihm gehen seither weit auseinander. Wir schauen zurück auf die belastbaren Fakten. Was konnte Atalan in seiner kurzen Amtszeit taktisch bewegen? Welche Baustellen konnte er nicht rechtzeitig schließen?
Der Artikel ist eine Zusammenarbeit der Autoren Tobias Wagner und Sebastian Hettmann.
Für den VfL verzichtete Ismail Atalan auf seine Hospitation bei Pep Guardiola. Dem Anspruch des Aufstieges wollte er genügen. All dies spricht für seine Ambitionen und Ziele. 10 Pflichtspiele später (9 in der Liga und eines im Pokal) gelang Christian Hochstätter zur folgenden Auffassung: „In den Tagen nach dem Spiel gegen Holstein Kiel verfestigte sich bei mir zunehmend die Ansicht, dass wir mit Ismail Atalan unsere sportlichen Ziele leider nicht erreichen werden. Ich habe mich in der Einschätzung des Trainers getäuscht. Das ist mein Fehler und dazu stehe ich„. Was hatte Atalan in den 10 Spielen getan, dass Hochstätter zu dieser Ansicht gelangte?
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Atalans Amtszeit insbesondere von fehlender Konstanz geprägt war. Begeisternde Phasen mit extremer Dominanz wechselten immer wieder mit mangelnder Durchschlagskraft und defensiver Instabilität ab. Da wir die Interna nicht verlässlich einschätzen können, wollen wir insbesondere, die auf dem Platz beobachtbaren, taktischen Änderungen analysieren und einordnen. Dabei wollen wir zwischen drei Stufen der Taktik unterschieden:
- Mannschaftstaktik: Die übergeordnete Spielphilosphie, die Grundformation und Überlegungen, die das Team als Gesamtkonstrukt betreffen.
- Gruppentaktik: Wie arbeiten die Spieler in Gruppen (2-5 Spieler) zusammen? Dazu gehören unter Anderem das Doppeln/Trippeln des Ballführenden, das Absichern von herausrückenden Bewegungen sowie abgestimmte Lauf- und Passwege benachbarter Spieler.
- Individualtaktik: Wie verhält sich der einzelne Spieler in bestimmten Situationen? Wie gut kommen seine Stärken und Schwächen durch seine Rolle zur Geltung?
Mannschaftstaktik – 4-3-3, 4-4-2, Hauptsache offensiv
Die charakteristischen Asymmetrien in seinem System hatte Gertjan Verbeek bereits in der letzten Saion mit der Umstellung auf das 3-5-2 deutlich zurückgefahren. Atalan hielt daran zunächst fest, indem er vorerst auf dem System mit permanenter Dreierkette aufbaute. Nachdem der FC St. Pauli die Probleme beim Pressing aus dem 3-5-2/3-1-4-2 am 1. Spieltag gnadenlos offenlegte, kehrte Atalan schnell zur Viererkette zurück. Von da an agierte der VfL meist aus der von Atalan präferierten 4-3-3 Grundordnung mit breit positionierten, schnellen Außenbahnspielern. Die Ordnung im Mittelfeld wurde dabei zu Beginn noch etwas variiert. So war in der zweiten Halbzeit gegen Duisburg ein klares 4-2-3-1 mit Eisfeld als Zehner vor der Doppelsechs, bestehend aus Losilla und Hoogland, zu erkennen, während es in den folgenden Spielen eher zwei Achter vor einem Sechser zu sehen gab. In den Spielen gegen Duisburg und Heidenheim sowie in den Schlussphasen bei Rückstanden kam das 4-4-2 als Alternativsystem zum Einsatz. Wurde dieses zu Beginn noch mit Hoogland neben Losilla eher stabil interpretiert, so gab es später meistens eine klare Aufteilung in Sechser und Achter. Dies hatte zur Folge, dass der VfL in beiden Systemen mit fünf Offensivspielern und nur fünf Spielern in der Restverteidigung extrem offensiv agierte. Diese riskante Aufteilung sorgt im Allgemeinen für besseren Zugriff im direkten Gegenpressing, wird jedoch schnell instabil, wenn das Gegenpressing überspielt ist. Dominanz und Instabilität liegen nahe beieinander.
Nicht nur bei den Grundformationen brauchte Atalan eine kurze Eingewöhnungsphase. Auch bei der Deckungsart und der Pressinghöhe probierte er erst etwas, bevor er sich später festlegte. Nachdem das weite Herausrücken von Soares und Gündüz in Mannorientierungen gegen die Außenverteidiger im Spiel gegen St. Pauli krachend scheiterte, setze er im Anschluss gegen Duisburg auf ein positionstreueres und eher raumdeckendes System, in welchem im Kollektiv verschoben werden sollte. Später nahmen die Mannorientierungen dann wieder Überhand, wobei jedoch etwas zaghafter herausgerückt wurde. Ähnliches galt auch für die Pressinghöhe. Gegen Duisburg wurde zuerst abgewartet, und erst dann aggressiv angelaufen, wenn der Ball der Außenlinie näher kam. Dazu positionierten sich die Stürmer im 4-4-2 vor den Sechsern der Meidericher und liefen von dort im Bogen die Außenverteidiger an. Im 4-3-3 machte der Stürmer von Beginn an Druck und wurde beim hohen Zustellen von den Außenstürmern unterstützt. Dahinter warteten die weiteren Spieler in losen Mannorientierungen, um die unter Druck gespielten Bälle zu gewinnen. Dies ähnelte dem Pressing unter Verbeek, wurde jedoch durch die fehlende Asymmetrie weniger lenkend und mit weniger Weiträumigkeit im Herausrücken gespielt, so dass trotz des hohen Aufwands frühe Ballgewinne eher selten erzwungen werden konnten.
In Ballbesitz gab es gegen Ende von Atalans Amtszeit wieder mehrere Elemente vom asymmetrischen System Verbeeks zu sehen. Linksaußen Robbie Kruse agierte stets an der Abseitslinie auf Höhe mit dem Mittelstürmer. Sam oder Hinterseer auf der anderen Seite blieben eher etwas tiefer und hielten die Breite. Dies lag auch an den Außenverteidigern. Danilo Soares rückte links weit auf, um Platz für Bastians und Stöger in den Aufbauzonen im linken Halbraum zu schaffen. Diese Zonen wurden auch konsequent angespielt. In den ersten neun Spieltagen wurden 43% der Angriffe über die linke Seite gespielt (28% durchs Zentrum, 29% über rechts). Damit war der VfL nach den ersten 9 Spieltagen die einseitigste Mannschaft der zweiten Liga. Für die Gegner war dies vorhersehbar. Ohne individuelle Glanzleistungen von Soares oder Stöger war es unmöglich, diese Aufbauzone wieder systematisch zu verlassen. Vor allem wenn Stöger aus dem Zentrum herausging, um von der linken Seite aus aufzubauen, fehlten die Verbindungen zurück ins Zentrum.
Die umfangreichen Umbaubewegungen führten auf der linken Seite zu einer hohen Konteranfälligkeit. Nach Ballverlusten mussten Stöger oder Soares riesige Räume kontrollieren, da Kruse bereits hoch aufgerückt war und Bastians durch die Laufwege der gegnerischen Stürmer in der Tiefe gebunden wurde. Dabei waren die Zugriffswinkel durch das hohe und breite Aufrücken Soares sowie die breite Aufbauposition von Stöger nicht ideal. Ein einzelner, verlorener Zweikampf konnte durch die personell dünne Restverteidigung schnell eine Kettenreaktion auslösen.
Gruppentaktik – Einer für Alle, jeder für sich
Die Gruppentaktik war einer der kritischsten Punkte in Atalans Amtszeit. Im Hype um Grundformationen (die gerne als Taktik verstanden werden) und individuelle Glanzleistungen wird die Gruppentaktik gerne vergessen. Sie ist jedoch der Kitt, der jede Mannschaft zusammenhält. Ein Team, das in der Gruppe funktioniert, wird auch als Ganzes funktionieren. Im Gegensatz dazu wird selbst die beste Mannschaftstaktik in sich zusammenfallen, wenn die Abstimmung der Spieler untereinander nicht stimmt.
In der Verteidigung war es zu erwarten, dass die Umstellung von den individuell geprägten, situativen Manndeckungen unter Verbeek zu einem gruppentaktisch geprägten Verteidigen (Lenken, Isolieren, Doppeln) Zeit dauern würde. Die Bemühungen, die Atalan nach dem Spiel gegen St. Pauli vornahm, wurden jedoch auch zu inkonsequent verfolgt. Seine bevorzugte Verteidigungsstrategie ist durch ein hohes Zustellen und Jagen des Ballführenden geprägt. Der Gegner soll in Zweikämpfe verwickelt werden und dadurch Fehler begehen. Ein Plan als Gruppe wird nicht unbedingt benötigt bzw. war häufig nicht zu erkennen. Ohne einen klaren Plan, wo die Bälle gewonnen werden sollen, muss jeder Spieler jedoch dauerhaft mehrere Optionen abdecken. Dies setzt eine hohe Konzentrations- und Einsatzbereitschaft jedes Einzelnen voraus. Mit steigenden Anforderungen an die Spieler steigt auch die Fehleranfälligkeit.
Ähnlich kritisch war das Fehlen gruppentaktischer Mechanismen im eigenen Ballbesitz. Zwar gab es Rotationen und Verschiebungen zwischen den Mannschaftsteilen. Diese wurden jedoch, wie bereits am Beispiel der Aufbaumechanismen auf Links beschrieben, eher auf mannschaftstaktischer Ebene organisiert, wodurch keine kleinteiligen Dynamiken entstehen konnten. Das primäre Prinzip war das Anbieten von Läufen in die Tiefe, die aus dem Mittelfeld bedient werden sollten. Die nächste Aktion nach dem langen Ball wurde dabei nicht gezielt fokussiert, so dass immer wieder mehrere Spielern in die Tiefe gingen und somit nach dem Verteidigen des langen Balls aus dem Spiel waren. Im Rückraum war in diesen Situationen kaum Gegenpressing möglich – auch da die langen Bälle oft zu früh gespielt wurden, um ein kollektives Aufrücken zu ermöglichen. Ließ sich der Gegner hinten reindrücken, konnte der VfL nämlich durchaus Dominanz ausstrahlen. Durch die gezielte Kombination von eher spielmachenden, abwartenden Spielertypen wie Eisfeld, Stöger und Merkel und tororientierten Sprintern wie Kruse, Hinterseer und Wurtz verstand es Atalan, die passenden Staffelungen auch ohne gruppentaktische Mechanismen organisch entstehen zu lassen.
Individualtaktik – Zwei Lichtblicke, aber auch Opfer
Wie bereits angedeutet, konnte Atalan gruppentaktische Defizite teilweise durch passende Spielerrollen auffangen. Das prominenteste Beispiel ist hier sicherlich Kevin Stöger. Dieser genießt seit seiner Aufstellung im Mittelfeldzentrum alle Freiheiten. Er kann in den zentralen Zehnerraum vorrücken, zum linken Flügel schieben oder für den Spielaufbau zurückfallen. Balanciert werden diese Bewegungen von seinem kongenialen Partner Anthony Losilla, der entweder nach links nachschiebt oder nach rechts ausweicht. Meist sucht sich Stöger Freiräume an den Rändern der Formation des Gegners, aus denen er etwas Zeit für seine langen Bälle in die Spitze, bevorzugt auf Robbie Kruse, bekommt. Situationen, in denen er Engen im Zentrum auflöst, passieren noch eher improvisiert, z. B. wenn Danilo ihn unter Druck anspielen muss. Diese Szenen löst er oft genial. Es wäre eine hochinteressante, aber auch mit Risiko behaftete Idee, Stöger noch fokussierter in solche Situationen zu bringen. Er könnte so ein Zusammenziehen des Gegners provozieren und nach einem erfolgreichen Lösen, die offenen Räume auf dem ballfernen Flügel attackieren.
Ist das Spiel im Drittel des Gegners sucht Stöger Freiräume im Halbraum, aus denen er nach Rücklagen oder Bällen vom Flügel die Schnittstellen bespielen kann. Hier nutzt er das Zurückfallen der gegnerischen Abwehrkette nach dem Raumgewinn des VfL sehr gut, um sich etwas fallen zu lassen und somit die entscheidende Sekunde für den tödlichen Pass zu bekommen. Das 2:0 gegen Ingolstadt ist ein Musterbeispiel für dieses Ausnutzen der gegnerischen Dynamik. Werden keine Läufe angeboten, hat Stöger aus diesen Positionen auch die Möglichkeiten, mit seiner starken Schusstechnik abzuschließen.
Robbie Kruse konnte nach der Initialzündung im Spiel bei Darmstadt 98 zeigen, dass er einer der Schlüsselspieler des VfL in dieser Saison sein kann. Durch seine Schnelligkeit sowie ein starkes Timing bei seinen Sprints stellt er für die gegnerische Abwehrkette eine ständige Gefahr dar. Nach ersten Versuchen auf dem rechten Flügel, verstand es Atalan, Kruse die notwendigen Freiheiten als Hybrid aus Linksaußen und hängender Spitze einzuräumen. Durch die Positionierung in den Schnittstellen zwischen den Ketten, bindet er stets mehrere Gegenspieler und schafft somit Räume für seine Mitspieler. Zudem ist die Nähe zu Kevin Stöger oftmals der Schlüssel für Torchancen und Tore, da die Tiefenläufe von Robbie Kruse nun einfacher durch Schnittstellenpässe von Stöger zu bedienen sind.
Konsequenter muss Kruse jedoch in der Rückwärtsbewegung werden. Diese vernachlässigt er in seiner Freirolle immer wieder, wodurch Unterzahlsituationen für Soares entstehen, wenn Stöger im zentralen Mittelfeld gebunden ist. Der unangenehme Laufweg zurück, könnte Abhilfe schaffen und die Stabilität des eigenen Abwehrverbunds stärken. Dies vernachlässigt Robbie Kruse vor allem bei Angriffen über die andere Seite. Das ballferne Abschalten ist ein Fehler vieler Offensivspieler, aufgrund der zahlenmäßig schwachen Restverteidigung ist es jedoch elementar für die defensive Stabilität.
Bei zwei anderen Spielern machte sich Atalan viele Gedanken, konnte jedoch die ideale Rolle nicht finden. Sidney Sam wurde mit hohen Erwartungen verpflichtet und von Atalan auch hoch gepriesen. In den Spielen konnte er diese Erwartungen jedoch nie erfüllen. In der breiten Grundposition wirkt er oft isoliert und kann seine technischen Fähigkeiten nicht einbringen. Zudem fehlt die Unterstützung, da der rechte Außenverteidiger für die Restverteidigung gebraucht wird und somit keine Läufe um Sam herum anbieten kann. Auf einer Pressekonferenz dachte Atalan deswegen offen darüber nach, Sam zentraler einzusetzen. Eine grundsätzlich gute Idee, die sein Nachfolger Jens Rasiejewski später in die Tat umsetzte – ohne Erfolg. Hier scheint das Problem mehr beim Spieler als bei den jeweiligen Trainern zu liegen.
Die zweite Personalie war Stefano Celozzi. Als Atalan die Mannschaft im Sommer übernahm, nutzte er die Chance der Testspiele, um den wiedergenesenen Celozzi mit seinen Stärken in Ballbehandlung, Spielübersicht und Passspiel als Verbindungsspieler im Zentrum zu etablieren. Celozzi zeigte auf dieser Position gute Leistungen, blieb jedoch auch mit unglücklichen Aktionen wie seinem Ballverlust vor dem Konter zum 0:1 gegen St. Pauli in Erinnerung. Nach der Umstellung auf die Viererkette wurde er dann wieder auf den Außenverteidigerpositionen benötigt, wobei er seinen Ausflug auf die linke Seite im Spiel gegen Dresden wohl lieber schnell vergessen würde. Eine sehr unglückliche Umstellung, die Atalan in der Halbzeit zum Glück revidierte. Auch in den Spielen auf seiner angestammten rechten Außenverteidigerposition konnte Celozzi unter Atalan sein volles Potenzial nicht entfalten. Durch den extremen Linksfokus wurde er im Aufbau ausgespart. Ein Einrücken bei hohem Ballbesitz gab es zwar noch sehen. Dieses wurde jedoch eher selten bedient und diente viel mehr der Absicherung im Gegenpressing. Er wurde zum reinen Absicherungsspieler degradiert. Eine Rolle, die dem eher schmächtigen und nicht übermäßig schnellen Celozzi nur sehr bedingt liegt.
Eine wichtige Komponente, die das Spiel des VfL in den Jahren unter Gertjan Verbeek prägte, war der aggressive Verteidigungsansatz mit vertikal herausrückenden Innenverteidigern. Auf diese Weise wurden viele Pässe in die Spitze abgefangen und direkte Gegenangriffe gestartet. Diese Aggressivität wurde zuletzt klar zurückgefahren. Das balancierende Zurückfallen Losillas, dass die Lücken hinter den herausrückenden Verteidiger oft schließen konnte, war nicht möglich, ohne die Räume vor der Abwehrkette komplett zu entblößen. Auffällig war die zurückhaltendere Spielweise insbesondere bei Felix Bastians, welcher konsequenter die Abwehrkette hielt und nur im Rückstand zur alten Spielweise zurückkehrte. Auch Tim Hoogland, ein Experte des Antizipierens, hielt seine Position im Zentrum der Viererkette und nutzte seine Instinkte lediglich beim Schließen von Lücken bei angedachten Schnittstellenpässen des Gegners. Dies spiegelt sich auch in der Statistik wieder: der freie Mittelfeldspieler Anthony Losilla führt mit 2,6 abgefangenen Bällen pro Spiel unter Atalan die mannschaftsinterne Liste an. Bastians und Hoogland folgen mit 1,7 erst hinter weiteren Spielern wie Robert Tesche, Danilo Soares und Patrick Fabian mit jeweils 2,3 abgefangenen Bällen pro Spiel unter Atalan. Auch bei den erfolgreichen Tackles führt Losilla mit 3,8 die Liste an, während Danilo Soares mit 3,1 folgt und Robert Tesche den dritten Platz mit 2,7 belegt.
Trotzdem, oder gerade deshalb, wurde unsere Mannschaft anfälliger im Umschaltspiel. Das halten der Positionen der Viererkette sollte Stabilität verleihen, die jedoch immer wieder ins Wanken kam, sobald der Gegner den Ball vor die Kette bringen konnte. Das Umschaltspiel auf den Angriffspositionen war streckenweise nicht ausreichend (siehe die Ausführung zum Defensivverhalten Robbie Kruses), um das Verzögern der Verteidiger zu nutzen und wieder den Anschluss herzustellen. Ohne diese Bereitschaft, dem Ball konsequent hinterher zu gehen und die Abwehrspieler zu unterstützen, kann der Gegner selbst mit nachstoßenden Läufen Überzahl herstellen und die Restverteidigung ausspielen. Bochum machte hier oft den Eindruck einer zweigeteilten Mannschaft.
Der wunde Punkt – Das Verteidigen von Standards
Der neue Trainer Jens Rasiejewski hat vor dem Spiel gegen den SV Sandhausen auf der Pressekonferenz die „Bereitschaft zum Verteidigen bei Standards“ eingefordert und als eine der größten Schwächen der Mannschaft unter Atalan erkannt. Bis zur Freistellung des ehemaligen Cheftrainers war die Verteidigung von Standards der Grund für 7 von 15 Gegentoren. Wir wollen diese Schwäche anhand von konkreten Beispielen genauer analysieren.
Ismail Atalan übernahm das Konzept von Gertjan Verbeek, bei dem eine Mischung aus raum- und mannorientierter Deckung zur Verteidigung von Standards herangezogen wird. Unsere kopfballstarken Spieler wie Bastians, Losilla, Fabian oder Hinterseer decken dabei den Raum vor dem Tor, welcher in verschiedene Zonen (bspw. kurzer Pfosten, Mitte und langer Pfosten) unterteilt wird. Auf ein Abdecken der Räume neben den Pfosten wird gezielt verzichtet, um eine Überzahl im Sechszehner zu schaffen. Durch die Raumorientierung soll der Dynamikvorteil des Gegenspielers bei einer Manndeckung wettgemacht werden, indem aus dem Raum aktiv in Richtung des Balles agiert wird.
Was in der Theorie sehr gut und durchdacht klingt, wurde leider auf dem Platz so gut wie nie umgesetzt. Insbesondere drei Dinge führten zu einer beispiellosen Instabilität bei Standards. Diese wollen wir im Folgenden diskutieren.
1. Bei der Raumdeckung besteht die Gefahr, dass Spieler in nicht relevanten Räumen decken. Dies war beim VfL Bochum unter Atalan insbesondere der Raum um den kurzen Pfosten. Das Doppeln dieses Raumes kann von Erfolg gekrönt sein, wenn die Ecken „zu kurz“ kommen oder kurz ausgespielt werden. Ist dies nicht der Fall, werden zwei Spieler leicht überspielt und es kann zu Gleich- bzw. Unterzahlen in anderen Räumen kommen.
2. Das aktive Verteidigen aus dem Raum wurde zu selten umgesetzt. Es fand eher eine Reaktion im Raum statt. Mit einer passiven Spielweise kann man so nur verlieren, da der Gegenspieler aus freien Räumen mit Wucht heranrauscht. Da es keine direkte Manndeckung der Gegenspieler gibt, können diese ohne Behinderung Schwung aufnehmen.
3. Zum Teil wurden um den Sechzehner herum leichtfertige Fouls begangen, welche absolut unnötig waren. Hier trägt unserer ehemaliger Chef-Trainer sicherlich kaum eine Schuld, da eine aggressive Herangehensweise ja durchaus gewollt war. Die Spieler müssen in diesen Situationen intelligenter das Risiko einschätzen. Ein Gegenspieler im Halbraum mit dem Rücken zum Tor stellt keine konkrete Gefahr dar. Ein Freistoß aus dieser Position kann jedoch stets gefährlich werden. Im Spiel gegen Darmstadt wurden beispielsweise kurz vor Schluss zwei Standards auf diese Weise hergeschenkt. Bei der bekannten Stärke der Lilien nach ruhenden Bällen und vor eigenem Publikum, sind solche unerklärbaren, individuellen Aussetzer tödlich.
Schlafmützigkeit? Mangelnde Bereitschaft? Individuelle Aussetzer!
Die Stärke der Darmstädter bei Standards wollte Atalan mit einer klaren Zonendeckung bei Eckbällen auffangen. Sechs Spieler (siehe Bild 1) decken den Raum vor dem Tor und sollen die einlaufenden Spieler aufnehmen. Hoogland, Losilla, Hinterseer und Bastians auf einer Linie; Celozzi und Soares davor. Man geht von einem Einlaufen auf den kurzen Pfosten aus, das insbesondere von Sulu sehr gern genutzt wird und deckt diesen Raum mit Hinterseer, Bastians und Stöger dreifach ab. Merkel soll Sulu in torfernen Räumen zusätzlich in Manndeckung nehmen. Leider wird Sulu gut vor Merkel frei geblockt und die Verteidiger aus dem Raum bleiben zu passiv, so dass Sulu den Dynamikvorteil zum 1:0 nutzen kann.
Noch Schlimmer ist die Szene gegen Darmstadt zu bewerten, die auf Bild 2 gezeigt ist. Ein Bochumer sieht zwei Gegenspieler gegen sich und Stürmer Artur Sobiech kann sich unbehelligt im Rücken davonschleichen, so dass er durch einen simplen Laufweg eine 100%-ige Torchance erhält. Die Abschlussschwäche von Sobiech, welcher komplett frei vor Dornebusch auftaucht, ist in dieser Situation der Rettungsanker für den späteren Sieg. Die nicht vorhandene Zuteilung und das doppelte Abdecken des ballnahen, aber torfernen Raums ist absolut nicht nachvollziehbar.
Die drei genannten systematischen Punkte sowie die mangelnde Bereitschaft bei Standards zieht sich durch die Spiele in Atalans Amtszeit. So sind in jedem Spiel Szenen erkennbar, bei denen entweder die Zuordnung nicht stimmt oder man sich leicht überrumpeln lässt. Beispielhaft noch Szenen aus dem Heimspiel gegen Heidenheim (Bild 3 und Bild 4) sowie beim desaströsen Auswärtsspiel in Kiel (siehe Bild 5). Zuletzt versuchte man die Verteidigung der Standards durch pure Quantität zu verbessern. Es wurde kein Konterspieler an der Mittellinie positioniert, sondern alle 11 Spieler um den Strafraum versammelt.
Diese Idee wurde zum Boomerang. Das Umschaltspiel nach abgewehrten Standards krankte. Das schlimme hierbei: Die absichernden Spieler des Gegners können unbehelligt vorrücken und die Bälle ohne Risiko in ihrem Rücken leicht gewinnen. Die abgewehrten Bälle kommen sofort zurück zum Gegner und können in Ruhe erneut in den Sechszehner geflankt werden. Robbie Kruse könnte mit seiner Geschwindigkeit die herausgeschlagen Bälle erlaufen und festmachen, bis die Ordnung wieder hergestellt ist und die Mitspieler nachrücken können. Zumindest hätten die Verteidiger eine konstante Gefahr in ihrem Rücken, die ein aggressives Vorrücken ins Gegenpressing verhindern könnte.
Das beschriebene Szenario ist doppelt kritisch, da auch das Verteidigen von Flanken aus dem Spiel nicht stabil ist. Im Spiel gegen Bielefeld fiel das 1:0 für die Arminia durch eine durchgerutschte Flanke aus dem Halbfeld (siehe Bild 6). Durch konsequentes Stören des Flankenden wäre die Hereingabe eventuell weniger scharf in den Strafraum gekommen. Weiterhin ist die Aufteilung nicht optimal, da einige Spieler, u.a. Görkem Saglam und Lukas Hinterseer, unnötige weil nicht gefährliche Räume decken. Einzig die Raumdeckung von Wurtz ergibt hier Sinn, um den Gegenspieler im Rücken attackieren zu können, sollte der Ball in seine Richtung abprallen. Zusätzlich verdeckte die Aufteilung direkt vor ihm Riemann sicherlich die Sicht, war aber nicht der maßgebliche Grund für das Gegentor.
Fazit
Der VfL war nach den 9. Spieltagen mit Atalan nach Torschüssen mit im Schnitt 13,9 Schüssen pro Spiel auf Platz 7 zusammen mit dem 1. FC Nürnberg. Mit 15,3 liegen sie jedoch auch bei den Schüssen aufs eigene Tor weit vorne (Platz 5). Die Überlegenheit im Ballbesitz (im Schnitt 52,7%, Platz 4) und bei der Passquote (77,8%, Platz 4) konnte also nicht in ein Übergewicht hinsichtlich der Abschlüsse überführt werden. Die Gründe dafür lagen insbesondere im Fehlen passender gruppentaktischer Dynamiken im letzten Drittel, einer zu riskanten Restverteidigung, die zu einem passiven Verteidigungsansatz im zweiten Drittel führte, sowie der katastrophalen Verteidigung von Standardsituationen.
Trotz dieser Kritikpunkte war nicht alles schlecht unter Ismail Atalan. Es gab begeisternde Phasen extremer Dominanz zu beobachten. Aufgrund der Inkonstanz reichte es am Ende jedoch nicht aus, um das vorhandene Potential des Kaders auszuschöpfen.
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