Auf Kosten der Union-DNA – ein Blick nach Berlin

Fans, Publikum, Zuschauer, Stimmung 1. FC Union Berlin

Nach dem „wichtigsten Spiel der Saison“ kommt es zum vielleicht wichtigsten Auswärtsspiel der Saison. Der VfL Bochum trifft am Sonntag um 15.30 Uhr an der alten Försterei in Berlin- Köpenick auf den 1. FC Union Berlin. Nachdem sich die Unioner im letzten Jahr sogar für die Champions League qualifiziert haben, geht nun ein bisschen die Abstiegsangst im Osten der Hauptstadt um. Oder doch nicht? Im Gespräch mit Union-Fan Christian, Union-Pate billy_diao auf transfermarkt.de auf der Suche nach Ursachen einer widersprüchlichen Saison, einem Kader mit großen Namen und den Erwartungen im Umfeld.

Wie ist zurzeit die Stimmung?

Angeschlagen. Eine widersprüchliche Saison liegt hinter uns und wir sind einfach erschöpft. Die erfolgreichste Saison der Vereinsgeschichte (Champions League-Gruppenphase) war zugleich die schwierigste Saison der jüngeren Geschichte (Horror-Niederlagenserie, Urs Fischer verloren, Union-Gesicht verloren). Zwischenzeitlich haben wir uns für einige Wochen stabilisiert, nur um jetzt wieder unten reinzurutschen und dem Abstieg so nah zu sein. Die Vorstellung, dass man nach fünf Jahre akribischer Arbeit, mit der sportlicher und wirtschaftlicher Aufschwung einher gingen, innerhalb weniger Momente vor einem Trümmerhaufen und einer existenzbedrohenden Lage stehen, ist ein Albtraum. Wir sind zu nah an der Sonne geflogen und haben uns bis auf die Knochen verbrannt.

Was sind die Kernursachen für die doch eher mäßige Saison?

Es war eine arrogante Transferpolitik. Man versteht natürlich, dass man aufgrund der Champions League auch entsprechende internationale Erfahrung holen sollte, aber dies geschah auf Kosten der Union-DNA. Spieler, die keinen Bezug zum Fußballk(r)ampf an der Alten Försterei haben, sollen auf einmal nun den schönen Mittwochabend-Fußball zeigen, während am Wochenende Darmstadt und Heidenheim warten?

Die Neuzugänge hatten ganz andere Vorstellungen und Wünsche für die Saison. Robin Gosens wollte sich für die EM ins Gespräch bringen, Bonucci wollte sich für Italien wieder anbieten und Kevin Volland sich nach einer schwierigen letzten Saison ins Schaufenster stellen – alle dachten dabei primär an ihren eigenen Erfolg. Niemand hat den Mannschaftserfolg in den Vordergrund gesetzt und sich dem Team untergeordnet. Das hat man auch in der Saison gemerkt – Khedira bezeichnete die Schwächephase als „Individuen, die ihre eigenen taktischen Vorstellungen durchsetzen wollten“ und sich so gegen die Mannschafts-Taktik gestellt haben. Mit fatalen Folgen, die wir noch auf Jahre aus wirtschaftlicher Sicht ausbaden müssen. Eine absolute Katastrophe.

Die Ironie bei all den namenhaften Transfers ist, dass ausgerechnet ein Spieler, der vom 3.Liga-Aufsteiger kam (Hollerbach), der einzige ist, der sich dem Union-Spiel angenommen und auch in Szene gesetzt hat. Das Management hat ein absolutes Systemversagen zu verantworten und damit Coach Fischer vergrault, als auch ein Stück weit die eigene Seele verkauft.

Was hat sich seit dem Amtsantritt von Nenad Bjelica verbessert? Wo ist noch am meisten Luft nach oben?

Es ist defensiv stabiler geworden, allerdings ist die Offensive komplett egalisiert. Wir haben keinen Zug zum Tor und niemanden, der den Ball reinmacht. Unser Topscorer ist Gosens, ein nomineller Linksverteidiger.

Ist eine spielerische Weiterentwicklung von Fischer zu Bjelica erkennbar? Zwar hat Union einer der wenigsten Gegentore in der unteren Tabellenhälfte, ist offensiv aber extrem harmlos (zweitwenigste Tore in der ganzen Liga).

Die Mannschaft wirkt vertrauter mit der Taktik, dies ist allerdings viel zu spät geschehen. Man kann nicht erst zum 23. Spieltag verstehen, wie Union Fußball spielt und sich dann schrittweise steigern – das ist zu spät und kostet uns viele Punkte. Eine „Weiterentwicklung“ ist zu hoch gegriffen, es ist eher eine Stabilität.

Wie kommt der Führungsstil von Bjelica an?

Bjelica ist als Mensch unnahbar. Nach dem Bayern-Fiasko um Sané hat er sich schon sämtlichen Kredit verspielt. Es zeichnet ihn aber aus, dass er den kompletten Fokus auf die Stabilität und Disziplin gesetzt hat. Wir waren jahrelang von Fischer’scher Bescheidenheit verwöhnt, mit der sich alle Unioner identifizieren konnten – ein Bjelica ist eine Black Box, bei dem wir nicht wissen, wer er eigentlich ist.

Sehen wir Bjelica auch in der nächsten Saison als Union-Trainer?

Nein. Es braucht einen Neustart.

Wie sieht das Umfeld die aktuelle Saison? Ist man sehr kritisch durch die Erfolge in den vergangenen Spielzeiten oder weiß man noch sehr genau, wo man herkommt?

An sich hat wohl niemand wirklich ein Problem mit einer Mittelfeld-Platzierung – es ist eher diese Arroganz auf dem Transfermarkt und die fehlende Identifikation der Neuzugänge, die uns alle extrem frustriert. Wir wissen, dass die letzten Jahre eine Ausnahme waren – aber dennoch sollte man sich dadurch nicht blenden lassen und auf einmal für enorme Ablösen und Gehälter ältere Spieler holen, die nicht zum Team passen und am Ende auch keinen finanziellen Mehrwert bieten.

Die Gelder, die ausgegeben wurden, sehen wir nie wieder und haben ein empfindliches Loch in das Etat verbrannt. Wir hatten im Sommer eine einmalige Chance, das Geld clever in Spieler zu investieren, die Teil dieser Sensation sein wollen und sich vor allem als Union-Spieler verstehen – stattdessen kamen Egoisten, die wir womöglich nicht einmal mehr nach dieser Saison hier sehen werden. Die Mannschaft konnte nicht weiterentwickelt werden, eher im Gegenteil: wir haben zwei Schritte zurück gemacht und müssen hoffen, dass wir nun aufgrund der finanziellen Anziehungskraft bei Gehältern noch Spieler halten und zu uns holen können.

Aufgrund sportlicher oder charakterlicher Argumente werden wir wohl auf absehbare Zeit keine spannenden Spieler mehr in Köpenick sehen, das hat sich der Verein durch diese Arroganz selbst kaputt gemacht.

Die Saison ist fast durch – wer von den Neuzugängen hat eingeschlagen? Wer war dir größte Enttäuschung?

Wenn überhaupt, dann haben nur Benedict Hollerbach und Kevin Vogt überzeugt. Und das ist schon bezeichnend: Hollerbach kam von einem Drittliga-Aufsteiger und Vogt ist erst zur Rückrunde zu uns gestoßen.

Alle anderen Neuzugänge enttäuschten und wurden ihren Erwartungen nicht gerecht: Leonardo Bonucci und Fofana (die zum Winter schon gingen) waren absolute Missverständnisse, Lucas Tousart und Alex Kral waren ihre Abstiege mit ihren letzten beiden Vereinen und Selbstzweifel anzumerken, Volland kam überhaupt nicht in Tritt und setzte keine offensiven Akzente. Gosens war zu sehr mit sich selbst und der EM beschäftigt, hat sich nie der Union-Taktik anpassen können, Brenden Aaronson zeigte immer wieder sein Talent und hat sich inzwischen auch stabilisiert, er ist aber auch mit Abstand der wertvollste Spieler im Kader und sollte eigentlich der kreative Unterschiedsspieler sein. Eine fürchterliche Transferbilanz.

Ist der Kader (Kaderwertmäßig) generell etwas zu schnell gewachsen? Wie werden die Verpflichtungen im Nachhinein bewertet?

Naja so richtig „gewachsen“ sind wir ja nie, wir hatten stets schon etwas erfahrenere Spieler im Kader und waren nie wirklich dafür bekannt, junge Talente zu fördern. Der Erfolg stieg uns zu Kopf, aber der Kaderwert war nie wirklich im rapiden Aufstieg, wie es die sportlichen Erfolge suggerieren würden.

Warum hat man trotz wenig geschossener Tore im Winter Kevin Behrens und Sheraldo Becker abgegeben?

Für beide gab es noch letzte attraktive Angebote. Beckers Vertrag lief aus und er machte nie einen Hehl über seine Ambitionen, bei Behrens war ein Tapetenwechsel auch notwendig.

Früher hatte man mit Max Kruse und Sebastian Polter echte Typen gehabt, die auch mal angeeckt sind mit ihrem Offensivspiel. Heutzutage mit Volland und Gosens zwei europäisch erfahrene Spieler. Fehlen Union die „Typen“?

Uns fehlen nicht unbedingt Typen, aber Leader, die mit Selbstbewusstsein ein Team wachrütteln können und auch mal intern Verantwortung übernehmen. Gosens und Volland haben natürlich ihre Erfahrungen und ihr Selbstbewusstsein, sie sind aber noch nie die Leader oder Kapitäne gewesen, die so eine Saison benötigt. Ein Vogt sticht da schon eher heraus und wäre womöglich zu Saisonbeginn die bessere Bonucci-Alternative gewesen.

Wen siehst du in der Mannschaft als „Anführer“ im Abstiegskampf?

Kapitän Christopher Trimmel, Vize-Kapitän Rani Khedira und überraschenderweise auch einen Andras Schäfer, dem man seinen Spielwitz und seine Leidenschaft für den Verein anmerkt.

Wie groß sind die Abstiegssorgen im Umfeld wirklich? Wird aktiv wahrgenommen, wie sehr man unten drin ist?

Die Angst ist enorm. Das Selbstbewusstsein und die Hoffnung sind da, es aus eigener Kraft bei dem Restprogramm zu schaffen, aber ein Abstieg wäre gleichbedeutend mit einer existenziellen Krise. In der Bundesliga könnte man trotz der Saison großartige TV- und Champions League-Einnahmen durch die Jahrestabellen auf Dauer verwirklichen, bei einem Abstieg wäre alles weg und die letzten 5 Jahre würden nur noch ein Eintrag im Geschichtsbuch der Fernsehergelder sein.

Ich kann seit Wochen nicht gut schlafen, in der Hinrunde habe ich regelmäßig geweint und mir meine Wochenenden versauen lassen. Es war eine Horror-Saison, bei der man durch all die Neuzugänge so große Erwartungen hatte und dann so bitter enttäuscht wurde. Ich erkenne diesen Verein nicht wieder, das ist nicht der Club, in den ich mich vor 26 Jahren verliebt habe. Ich will leidenschaftlichen Fußball sehen. Zwei, drei Grätschen am Spielfeldrand mehr und Spieler, die nach vorn und hinten rennen, füreinander einstehen, sich als Mannschaft sehen. Diese Saison sah ich großteils 11 Individuen auf dem Platz, die parallel checkten, ob die Nationaltrainer angerufen haben.

Man vermisst ja immer die „guten, alten Zeiten“ – das Problem ist nur, dass man nie genau weiß, wann man sie JETZT gerade erlebt. Diese Saison habe ich erkannt, dass die letzten Jahre die „guten, alten Zeiten“ waren und ich vermisse sie so sehr. Ich will nur noch, dass dieser Albtraum endet und wir wieder etwas Ruhe finden.

Steht Oliver Ruhnert angesichts der Saison auch in der Kritik?

Unioner sind grundsätzlich nostalgisch und loyal. Selbst bei vier Abstiegen würden wir Ruhnert und Fischer weiterhin als Fußballgötter verehren. Es ist aber auch nicht zu ignorieren, dass er mit seinem Team die Verantwortung für diese Saison trägt. Kein Neuzugang hat das Union-Spiel verbessert, eher im Gegenteil. Aus nüchterner Sicht benötigt es auch auf dieser Position einen neuen Impuls, die Lehren der Saison sind viel zu schwerwiegend. Auch für Fußballgötter.

Wie siehst du den VfL Bochum in dieser Saison?

Der VfL Bochum bedeutet mir das, was Union die letzten Jahre war: Ehrlicher, leidenschaftlicher Fußball mit Spielern, mit denen man sich einfach identifizieren kann. Selbstbewusster, frecher Fußball, der in einigen Phasen auch dreckig belohnt wurde. Mit viel Wehmut schaue ich nach Bochum und wünsche mir so sehr, dass ihr die Klasse haltet.

Deine Abstiegskampf-Prognose: Wer hat die besten Karten für ein versöhnliches Saisonende?

Union hat glücklicherweise das „leichtere“ Restprogramm: Bochum, Köln, Freiburg. Da sollten schon 5 Punkte drin sein, sodass man bei den Konkurrenten im Abstiegskampf auch mal etwas entspannter das Bundesliga-Radio anmachen kann. Versöhnlich wird es aber dennoch für niemanden, alle Vereine müssen ihre Konsequenzen ziehen und den Sommer frühstmöglich schon mit der Kaderplanung anfangen.

Vielen Dank für das Interview!

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Written by Matthias Rauh

Obwohl in Bayern wohnhaft besitze ich eine Dauerkarte beim VfL und versuche, jedes Heimspiel und jedes Auswärtsspiel im Süden vom VfL mitzunehmen. Meine Begeisterung für den VfL entwickelte sich in der Saison 2006/07, endgültig besiegelt wurde sie bei dem eigentlich völlig belanglosen Spiel Karlsruher SC gegen den VfL im Jahr 2008. Während eines Fußballturniers wollten meine Mannschaftskameraden in der Bundesligakonferenz ständig die Zwischenstände von Bayern München und Nürnberg wissen, ich erntete misstrauische Blicke, als ich den Zwischenstand von Bochum wissen wollte. Abstieg, Relegation, Funkel, Neururer... ich bin immer noch dabei und freue mich immer mehr auf Spiele wie Bochum gegen Sandhausen als Bayern gegen Dortmund.

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