Die erste Halbzeit des Grauens – eine Analyse

Foto: VfL Bochum

Mit etwas Abstand von der großen Enttäuschung nach der kleinen Euphorie durch die erste Woche von Letsch versuchen wir das Gesehene zu analysieren. Wie kam es zu der deutlichen Klatsche gegen Leipzig? Wir analysieren für euch die erste Halbzeit im Detail, die zu den schlechtesten Leistungen des VfL seit langem gehörte. Nicht wenige fühlten sich an dunkle Tage der 2010er-Jahre erinnert. Eine taktische Analyse von Tobias Wagner. 

Wie schon in den Niederlanden lässt der neue Trainer des VfL direkt im ersten Spiel seine Elf mit einer Dreierkette hinten auflaufen. Ganz neu ist das nicht, phasenweise, vor allem nach Rückständen hatte man dies auch schon unter Thomas Reis gesehen. In den allermeisten Fällen trat in den letzten Jahren der VfL allerdings „klassisch“ mit Viererkette auf.

Das 3-5-2 wurde trotz der defensiven Besetzung als solches interpretiert. Die beiden Stürmer Holtmann und Zoller liefen die Innenverteidiger der Leipziger an. Dahinter belauerten Osterhage und Losilla die Doppelsechs. Die Flügelverteidiger pendelten zwischen ballnahem Anlaufen des Außenverteidigers und Einreihen in die Abwehrreihe. Im Fachjargon würde man von einer pendelnden Viererkette sprechen. Da Goralski sich tiefer hielt, entstand so eine 5 zu 4 Überzahl in der eigenen Hälfte. Bis auf die Rollen der Außenverteidiger also gar nicht so viel neues.

In den ersten Minuten konnte man so viel Druck auf den Ball machen, ohne jedoch zu aussichtsreichen Ballgewinnen zu kommen. Das Herausrücken der Flügelverteidiger passierte noch zu zaghaft, was jedoch auch in den großen Distanzen zwischen den Leipziger Außenverteidigern und der Position in der Defensivreihe lag. Leipzig konnte verlagern und Bochum laufen lassen, bis sich Räume hinter den Achtern auftaten, die mit Steilpässen bespielt werden konnten. Hier kam insbesondere Tim Oermann oft zu spät in den Zweikampf, um eine Ballannahme und die Ballsicherung im letzten Drittel zu verhindern. So kam es auch zu den ersten Chancen nach Fernschüssen, wie dem Pfostentreffer von Werner.

Das zweite große Problem war das fehlende Umschalten. Konnte unser VfL Bälle in der eigenen Hälfte gewinnen, griff sofort das Gegenpressing der Dosen. Viele Bälle gingen sofort wieder verloren. Die fehlende Pressingresistenz eines Kevin Stöger oder Philipp Hofmann wurde extrem vermisst. Da auch der eigene Ballbesitz bei Abstößen mit langen Bällen auf die chancenlosen Zoller und Holtmann schnell abgegeben wurde, befand man sich unter Dauerdruck.

Mit der Zeit (nach etwa 5-10 Minuten) wurde erst das Pressing im 3-5-2 etwas tiefer angelegt, in dem sich die Stürmer am tieferen Sechser orientierten und die Flügelverteidiger etwas tiefer blieben, dann wurde auf 5-4-1 umgestellt. Soares und Gamboa reihten sich in die Abwehrkette ein, Osterhage spielte links, Zoller und Holtmann abwechselnd rechts, neben der Doppelsechs aus Losilla und Goralski.

Beim Tor von Werner kam dann alles zusammen. Nach Verlagerung von links spielt Leipzig diagonal rechts in die Tiefe. Gamboas Block landet direkt bei Leipzig und Oermann lässt eine kleine Lücke durch die der Pass Werner erreicht. Im Eins gegen Eins lässt er Riemann keine Chance.

Kurz nach dem Gegentor wechselt der VfL wieder auf das hohe 3-5-2 der Anfangsphase. Zudem versucht Bochum auch mehr flach hinten rauszuspielen. Dabei stehen die Halbverteidiger jedoch noch zu nah beieinander, so dass sie leicht zu pressen sind.

Vor dem Elfmeter gibt es etwas Chaos aufgrund von mehreren Umschaltsituationen nach Kopfbällen, etwas, dass Letsch eigentlich in der Woche explizit trainiert hatte. Am Ende kann jedoch Kampl den Ball treiben, während es Werner und Nkunku schaffen in perfekte Zwischenpositionen in den Räumen zwischen den Verteidigern der Dreierkette und den beiden Sechsern zu kommen. In solchen Situationen müsste man eigentlich Tempo rausnehmen, in dem man sich nach hinten absetzt, um die Tiefe zu kontrollieren. Ordets versucht jedoch noch in den Zweikampf zu kommen, wird umspielt und Horn bleibt von hinten nur noch das riskante Tackling bzw. Foulspiel.

Erstaunlicherweise wird nach dem zweiten Gegentor erstmal auf Sicherheit und das tiefe 5-4-1 gesetzt. Holtmann ist vorne allein gegen 4, so dass Leipzig sich unser Team in Ruhe zurechtlegen kann. Durch das Vorschieben der Sechser entstehen immer wieder Lücken, welche die Dosen konsequent anspielen. Beim Herausrücken aus der Fünferkette fehlen Abstimmung und Timing. Vor dem Schuss von Szoboszlai direkt nach dem 0:2 laufen sich der linke und rechte Halbverteidiger Horn und Oermann gegenseitig um. Soares hat riesiges Glück, dass er nach seinem taktischen Foul nicht bereits in der 30. min mit gelb-rot vom Platz fliegt.

Foto: VfL Bochum 1848

Nach dem Wechsel Masovic für Soares plätschert die erste Hälfte aus. Masovic geht halb links in die Fünferkette während Horn auf die Außen rückt. Bis auf kleine taktische Anpassungen wie eine kurze Phase tiefes 3-5-2 oder das Vorrücken eines Verteidigers (meist Ordets zentral) zur Verbesserung der Abstände beim tiefen Aufbau, arrangiert sich unser VfL damit sich einzuigeln und Leipzig das Spiel machen zu lassen.

Ernüchterndes Fazit der ersten Hälfte

Thomas Letsch hat sich mit der Anzahl der Anpassungen keinen Gefallen getan. Gleich zwei neue Systeme (3-5-2 und 5-4-1) und die komplette Repriorisierung der Orientierungspunkte (von Mann und Ball auf Raum und Ball im freien Spiel und von Raum auf Mann bei Standards) war dann doch zu viel. Die Spieler waren so sehr damit beschäftigt, sich und ihre Abstände untereinander zu organisieren, dass sie beim Attackieren des Balls und des Gegenspielers meist zu spät kamen. 77 zu 23 % Ballbesitz und 8 zu 0 Schüsse für Leipzig sprechen eine deutliche Sprache. Kleinere Schritte aus dem 4-4-2 von Butscher wie in unserem Artikel zu Letsch Einstand wären auch rückblickend die bessere Wahl gewesen.

Autor: Claudio Gentile

Als gebürtiger Bochumer wurde ich das erste Mal im zarten Alter von sechs Jahren ins Ruhrstadion geschleppt. Der VfL verlor. Was auch sonst. Trotzdem ließ mich der Verein nicht mehr los und spätestens als ich ein paar Tage nach meinem ersten Stadionbesuch das legendäre Papagei-Trikot mit einem "Peter Peschel"-Flock überstreifen durfte, war es um mich geschehen. Das ist jetzt 26 Jahre, wenig Siege und viele Niederlagen her. Wo die Liebe im Fußball hinfällt, kann man sich ja bekanntlich nicht aussuchen. Und eine Liga kennt Liebe auch nicht.

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