Selbstverständlichkeiten des Fußballs in Zeiten von COVID-19

Wie kann der VfL Bochum, wie kann der Fußball sich demnächst noch über Wasser halten? Foto: Tim Kramer (VfL Bochum)
Foto: Tremark Fotografie

Selbstverständlichkeit. Ein Begriff, der in den letzten zwei Monaten eine völlig neue Bedeutung bekommen hat. Corona hat unser Leben fest im Griff. Hätte uns im Februar noch jemand erzählt, wie sehr sich unser Alltag in ganz kurzer Zeit ändern kann, wie lange es nach dem spektakulären 4:4 gegen Sandhausen Anfang März dauern wird, bis man wieder die Treppen ins Ruhrstadion hochgehen darf, man hätte der Person einen Vogel gezeigt. Sich Woche um Woche 90 Minuten den Grottenkick des blau-weißen Herzensvereins anschauen – eine Selbstverständlichkeit, die uns genommen wurde. 

Fußball ist „nur“ die wohl schönste Nebensache der Welt, aktuell ist er jedoch zentraler Bestandteil einer gesellschaftlichen Debatte. Dabei steht neben dem sozialen Aspekt, ob man von Fußballern der höheren Ligen bei ihren Gehältern nicht größere Verzichte erwarten könne, vor allem die Frage im Raum, ob es gesundheitlich, aber eben auch moralisch vertretbar ist, dass der Fußball sein „Geschäft“ wiederaufnimmt? Wird dem Fußball hier wirklich eine Sonderrolle zugesprochen verglichen mit dem Rest der Wirtschaft? Oder wird die Debatte nicht sogar sinnbildlich instrumentalisiert, um einen bestimmten Zweig, der schon seit Jahren aufgrund von Gehalts- und Ablöseexzessen und fortschreitender Kommerzialisierung quasi unter Dauerbeschuss steht, praktisch zu „Back-to-the-roots“ zu zwingen, in dem man ihm den Fernsehgeld-Stecker durch ein Spielverbot oder das Ablehnen von Geisterspielen zieht? Ist denn überhaupt zu erwarten, dass wir in der Post-Corona-Zeit eine bessere, gar bodenständigere Fußballwelt vorfinden würden? Kann man dem Fußball einen Vorwurf machen, wenn auch er sich Wege sucht, um in irgendeiner Form zu überleben? Will der Fußball wirklich eine Sonderrolle oder will er schlichte Gleichberechtigung – die Erlaubnis, den Job ausführen zu dürfen? Fragen über Fragen.

Wir vermissen wohl alle die als selbstverständlich geglaubten Alltäglichkeiten. Auch den Fußball. Foto: Tim Kramer (VfL Bochum)

Thematiken wie die aktuelle sehe ich aufgrund meines Hintergrundes oft aus einer sehr ökonomischen Brille. Dieser Sichtweise werden nicht alle zustimmen. Das ist gut und richtig so, denn wir brauchen einen gesamtheitlichen Diskurs. Nur erlebt man es eben in Fragen des Geldes oft, dass die ökonomische Sichtweise, vor allem im Ruhrpott, von vielen gerne komplett ausgeblendet wird – dies funktioniert aber nur sehr bedingt. Schaffen es die Clubs sich nicht mehr durch die bisherige Finanzierungsstruktur selber zu retten, gibt es wenige Alternativen. Viele hoffen zwar mit einer gewissen Portion Fußballromantik, dass es zu einem reinigenden Gewitter kommen könne, das den Fußball zu seinen Wurzeln bringt, aber diese Hoffnung halte ich für naiv und reine Utopie.

Realistisch sind für mich eher zwei Szenarien: Eine Insolvenz mit momentan absolut nicht einschätzbaren Folgen oder das plötzliche Auftauchen eines weißen Ritters.

Es gab sicher schon einfachere Zeiten Foto: VfL Bochum

Der weiße Ritter ist an den Finanzmärkten eigentlich jemand, der einem Unternehmen zur Seite springt, wenn es von einer feindlichen Übernahme bedroht ist. In der aktuellen Lage werden die weißen Ritter auftauchen, um den Vereinen das Geld anzubieten, das sie für das schlichte Überleben brauchen. Nur zu welchem Preis? Richtig – 50+1 wird dann fallen. Dass gerade Hans-Joachim Watzke dieses drohende Phänomen anspricht, hat einen ganz bestimmen Grund. KGaA’s, die ihre Anteile schon komplett veräußert haben und eben nicht mehr nach der Hand des Geldgebers greifen können, werden zwangsläufig sterben oder eben nur „irgendwie“ überleben, wenn sie verhältnismäßig hohe Liquiditätsreserven wie der BVB haben. Doch auch für die anderen Vereine und uns Fans darf der Fall von 50+1 durch Corona keine Alternative sein. Nochmal: Wir sprechen hier nicht von einer stillen Minderheitsbeteiligung, sondern von einem Mehrheitseigner, der danach Walten und Schalten kann, wie es ihm beliebt. Das hat nichts, aber auch gar nichts mehr mit der Art Investor zu tun, von der bisher immer die Rede war. Und da seit der Jahreshauptversammlung, auf der eben die Ausgliederung beschlossen wurde, nun schon einige Jahre vergangen sind, ohne dass ein passender Investor zu normalen Zeiten auf der Bildfläche aufgetaucht ist, kann man sich ausmalen, wie schwierig es sein könnte, einen halbwegs passenden Partner in Krisenzeiten zu finden – sofern man denn überhaupt einen findet.

Dunkle Wolken sind aufgrund der aktuellen Lage nicht nur über dem Ruhrstadion zu sehen. Foto: VfL Bochum

Die neuen Mehrheitseigner haben gar nicht so viele Möglichkeiten, ihr Investment gewinnbringend zu gestalten. Einen Weg, den sie zwangsläufig gehen müssen, ist eben die maximale Kommerzialisierung – noch mehr, als wir sie heute schon sehen. Und da kommen dann die wirklich schmerzlichen Dinge ins Spiel. Seien wir mal ehrlich: Ob da jetzt eine Bande mehr am Rand steht oder nicht oder ein kleiner Aufkleber am Ärmel ist, juckt uns Fans doch wirklich nicht allzu sehr. Wenn wir jedoch an den Punkt kommen, dass die Abschaffung der Fankurven-Biotope auf den Stehrängen Realität wird, dann tut das jedem weh. Dieser aus Eigentümersicht quersubventionierten Kostentreiber wird endgültig abgeschafft werden und in Deutschland wird es nur noch investorenfreundliche All-Seater nach englischem Vorbild geben. Und das ist nur eine mögliche Maßnahme.

Ich will hier kein Horrorszenario an die Wand malen, aber so viele Alternativen gibt es nunmal nicht. Mal eben alles auf null setzen und danach starten wir Händchen haltend in eine neue, weniger kommerzialisierte Liga in die Post-Corona-Zeit, das kann und wird es schlicht und einfach nicht geben. Einfach den Spielern das Gehalt kürzen, weil sie ja „eh alle so reich sind“ – mag zwar momentan auf großen Anklang stoßen, ist in der realen Welt aber nicht umsetzbar. Ich will hier jetzt keinen Kurs in Rechnungswesen nachschieben, aber glaubt hier wirklich jemand, dass die Vereine nicht sofort bilanziell überschuldet sind, sobald die „Top-Spieler“ von Sonderkündigungsrechten Gebrauch machen wegen ausbleibender Gehaltszahlungen und anderswo die Vereine mit den Schecks wedeln?

Können Spiele vor leeren Rängen den Fußball in seiner jetzigen Form noch retten? Foto: Tim Kramer (Tremark Fotografie)

Geisterspiele sind – bei allen moralischen und umsetzungstechnischen Fragezeichen – wohl (ich hasse dieses Wort) alternativlos, wenn man sich nicht von externen Faktoren abhängig machen und den ökonomischen Schaden so klein wie möglich halten möchte. Die disruptiven Kräfte, die gerade auf den Fußball wirken, sind enorm. Die Gefahr, dass eine „Restrukturierung“ der Fußballwelt durch Ausbleiben der Fernsehgelder in eine komplett andere Richtung läuft als dorthin, was sich vor allem Fan-Kreise, die sich gerade vehement gegen diese Geisterspiele aussprechen, ist enorm und sollte bei allen Überlegungen Berücksichtigung finden. Und da sind wir wieder bei dem Thema Selbstverständlichkeit. Es gibt keine moralisch-, ökonomisch- und ethisch-überlegene Lösung, die alle Seiten gleichzeitig zufriedenstellen wird. Ich hoffe eben nur, dass eine Lösung gefunden wird, die uns irgendwann wieder, wie selbstverständlich, die Treppen des Ruhrstadions hochlaufen lassen wird.

Abschließend möchte ich betonen, dass die Argumentation auf Basis der aktuellen recht positiven Entwicklung in Deutschland fußt. Sollte sich die Lage bzgl. COVID-19 wieder verschlechtern, steht es für mich komplett außer Frage, dass der Fußball sofort wieder aufhören muss zu spielen.

Autor: Claudio Gentile

Als gebürtiger Bochumer wurde ich das erste Mal im zarten Alter von sechs Jahren ins Ruhrstadion geschleppt. Der VfL verlor. Was auch sonst. Trotzdem ließ mich der Verein nicht mehr los und spätestens als ich ein paar Tage nach meinem ersten Stadionbesuch das legendäre Papagei-Trikot mit einem "Peter Peschel"-Flock überstreifen durfte, war es um mich geschehen. Das ist jetzt 26 Jahre, wenig Siege und viele Niederlagen her. Wo die Liebe im Fußball hinfällt, kann man sich ja bekanntlich nicht aussuchen. Und eine Liga kennt Liebe auch nicht.

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