Nicht vergessen, wo wir herkommen – ein Kommentar

Langeweile oder Ungeduld? Mit großer Regelmäßigkeit macht sich im Sommer unter Anhängern des VfL eine große Nervosität breit, wenn bis zum Trainingslager nicht der gesamte Kader steht. Auch jetzt, wo man in einer guten Situation wie seit 15 Jahren nicht mehr ist. Berechtigt? Und was hat Erwartungshaltung damit zu tun. Ein Kommentar.

Man kann den Verantwortlichen des VfL Bochums wenig vorwerfen. Sehr wenig. Der Erfolg der letzten Jahre gibt ihnen in ihrem Handeln recht. Nur eine Aussage hätte Ilja Kaenzig sich schenken können. Nach dem erfolgreichen Klassenerhalt Ende Mai sagte unser Geschäftsführer, dass der VfL nun finanziell in ganz andere Regionen vorstößt. Das mag faktisch richtig sein – doch hat das bei vielen Fans eine Erwartungshaltung geweckt, die schlicht und einfach nicht bedient werden kann. Unser VfL steht finanziell so gut da wie seit vielen Jahren nicht mehr, oder gar besser als je zuvor – trotzdem sind wir im Konzert der ersten Bundesliga immer noch ein sehr kleiner Fisch. Medien brauchen Klicks, reißen 1-2 Sätze aus dem Kontext und haben eine Überschrift, die bei den Leuten hängen bleibt. Die wenigsten Menschen machen sich die Mühe, Aussagen zu prüfen oder in einen Kontext zu setzen, der den Inhalt einer Überschrift, eines Einzeilers wieder sehr schnell relativiert. Kann man diese Transferleistung von Fans überhaupt erwarten? Ich weiß es nicht.

Dass viele Fans das eben nicht tun, zeigt sich in diversen Foren, Facebook-Gruppen und sozialen Netzwerken. Die Erwartungshaltung an die diesjährige Transferperiode ist ins unermessliche gestiegen. Überall ist eine große Nervosität zu spüren, eine um sich greifende Ungeduld. So werden Transfers von Top-Scorern aus der zweiten Liga wie Daschner und Kwarteng, die in den letzten Jahren noch von allen Seiten bejubelt worden wären, überkritisch beäugt. Auch ein Verbleib von Leistungsträger Ivan Ordets wird unterbewusst in die Schublade „selbstverständlich“ gepackt. Ein Bero, der von seiner Art zu spielen aber auch seiner Persönlichkeit meiner Meinung nach für uns zu einer Art Königstransfer werden kann, wird von vielen nur als gute Kaderergänzung wahrgenommen. Dass man zum Start des Trainingslagers einen auf dem Papier sehr gut besetzten Kader hatte, bei dem eigentlich nur ein linker Außenverteidiger und einer, maximal zwei Innenverteidiger fehlten, wird dann gerne mal vergessen.

Luxus-Situation

Auch wenn die Testspiele teilweise noch nicht wirklich rund liefen, sind wir in diesem Jahr in der für unsere Verhältnisse absolut luxuriösen Situation, dass wir einen starken Kader sehr früh in der Vorbereitung beisammen hatten. Wie bereits erwähnt, es fehlen sicherlich noch ein paar Puzzlestücke, aber wir sind ganz weit von Verhältnissen entfernt, als man noch mit Biegen und Brechen hoffen musste, dass bei den großen Vereinen Ende August was abfällt, damit man überhaupt konkurrenzfähig ist. Mit Bernardo hat man nun die erste Lücke mit einem starken Transfer geschlossen. Letsch, Fabian und Lettau sollte man hier als Fan Geduld und Vertrauen entgegenbringen.

Keine Ahnung, was einige erwartet haben. Aber wenn jemand wirklich dachte, dass wir im Sommer jetzt nur so mit Ablösen um uns werfen, ist er schlicht und einfach immer noch beim falschen Verein. Der Erfolg der letzten Jahre kam durch kluges, umsichtiges Handeln, nicht nur finanzielles Harakiri. Und falls jetzt jemand das Beispiel Union Berlin anführt – ja, die sind zu 100% ins Risiko gegangen. Hätte sich da kein sportlicher Erfolg eingestellt, hätten wir in der Hauptstadt jetzt aber auch zwei Pflegefälle im Profifußball.

Erwartungshaltung

Auch wenn es in der kommenden Saison mit Darmstadt und Heidenheim zwei Vereine in der Liga gibt, die voraussichtlich mit einem kleineren Budget arbeiten als wir. Auch wenn wir die Lücke zu den anderen Vereinen verkleinern konnten – es wird wieder ein Kampf bis zum Ende um den Klassenerhalt. Das sollten sich einige auch jetzt schon immer wieder vor Augen führen. Weder werden wir die Liga überrollen, noch werden wir irgendwo im gesicherten Mittelfeld spielen, wenn alles mit normalen Dingen zugeht. Wir werden wieder einen Zusammenhalt brauchen wie in der letzten Spielzeit. Die Saat dafür zu legen fängt bei einer realistischen Erwartungshaltung an. Wir sollten niemals vergessen, wo wir herkommen. Es bleibt harte Arbeit. Jeder Punkt zählt. Glück auf.

Autor: Claudio Gentile

Als gebürtiger Bochumer wurde ich das erste Mal im zarten Alter von sechs Jahren ins Ruhrstadion geschleppt. Der VfL verlor. Was auch sonst. Trotzdem ließ mich der Verein nicht mehr los und spätestens als ich ein paar Tage nach meinem ersten Stadionbesuch das legendäre Papagei-Trikot mit einem "Peter Peschel"-Flock überstreifen durfte, war es um mich geschehen. Das ist jetzt 26 Jahre, wenig Siege und viele Niederlagen her. Wo die Liebe im Fußball hinfällt, kann man sich ja bekanntlich nicht aussuchen. Und eine Liga kennt Liebe auch nicht.

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