Einfach nur Liebe für den VfL

Der VfL Bochum schafft am 34. Spieltag der Saison 2022/23 den Klassenerhalt. Mit einem 3:0 gegen Bayer Leverkusen schiebt man sich auf den 14. Tabellenplatz. Das dritte Wunder in drei Jahren. Ein emotionaler Rückblick. 

Einsatzbus der Bogestra auf dem Parkplatz hinter der Veltins Arena. Die Scheiben beschlagen langsam, Handyempfang hast du keinen, deine Freunde hast du im Trubel nach dem Spiel verloren. Du bist allein mit deinen Gedanken. Alleine mit der Wut, der Enttäuschung. Im Hintergrund hörst du ein Wirrwarr an Gesprächen von anderen Leuten. Mahnende Worte, dass man nie vergessen sollte, woher man kommt. Aber auch beginnende Abneigung gegen eine Person, die damals noch auf der Bank des VfL Bochums saß, nur um wenige Wochen später die Seiten zu wechseln und kein Mikrofon ausließ, um zu betonen, wie viel größer, besser, geiler Schalke sei. Der VfL Bochum hat gerade das 6. Spiel der Saison mit 3:1 gegen Schalke verloren und steht mit null Punkten auf dem 18. Tabellenplatz.

Es ist der Abend des 10.09.2022, an dem ein ganz großer Teil der Bochumer die Saison 2022/23 abgeschrieben und sich mit dem erneuten Gang in die zweite Liga abgefunden hatte. Zwei Jahre Oberhaus, zwei Jahre Bundesliga. Die Sehnsucht gestillt, aber im nächsten Jahr dann wieder, bei allem Respekt, Sandhausen und Regensburg zu Gast. Ärger in Richtung Mannschaft gibt es keinen. Jeder weiß, dass Spieler Riemann, Toto oder Zoller alles für unseren Verein geben. Die Erwartungshaltung in Bochum ist gesund realistisch geworden. Jeder weiß, wo wir herkommen und wo unsere finanziellen Möglichkeiten im Konzert der ganz Großen einzuordnen sind. Nach zwei Wundern hintereinander scheint sich diesmal eine Outperformance gemessen am finanziellen Input nicht zu wiederholen.

Aber was man immer wieder hörte: Wäre ein so starkes Abfallen vermeidbar gewesen? Hartnäckig hielt sich im Sommer ein Rumoren um die Causa Thomas Reis. Mit Schalke habe er gesprochen. Seinen Vertrag wollte er auch nicht verlängern. Dazu der ganze Stress um Sebastian Schindzielorz. Immer wieder tauchte der Name Wolfsburg auf, seinen Vertrag hatte er fristgerecht gekündigt. Trotz seines bestätigten Ausscheidens sollte er den Kader für die Saison 2022/23 zusammenstellen. Der Eine sicher weg, die wilden Gerüchte um den Anderen. So viel Unruhe um die Architekten es Erfolgs, die am 30.04. noch nach einem fulminanten 4:3 in Dortmund den Klassenerhalt vor 10.000 Bochumern im Signal Iduna Park feierten.

Am Ende ist man immer schlauer. Dass man nach der Bürde der ersten Spiele am Samstagabend des 27.05.2023 ausgelassen den Klassenerhalt feiern kann, ist nicht selbstverständlich. Vermutlich sechs Spiele zu spät hat man sich am Anfang der Saison von Thomas Reis getrennt. 34 Punkte zu holen in so wenigen Spielen – vor der Leistung eines Thomas Letsch kann man nur Respekt haben. Auch die Kaderplanung eines Sebastian Schindzielorz war im Sommer teilweise unglücklich. Natürlich – sein Kader hat den Klassenerhalt gepackt, doch hätten uns teure Missverständnisse wie ein Lys Mousset oder das Loch in der Hintermannschaft der ersten Spiele auch genauso gerne das Genick brechen können. Im Nachhinein muss man aber auch hier sagen: Hofmann, Stöger, Förster, Ordets – alles Säulen des Erfolgs. Es ist nicht der Tag, nachzutreten oder gar schlechte Stimmung zu machen. Es soll nur vor Augen führen, wie nah feierndes Tollhaus und Leid beieinander liegen können.

Mit Thomas Letsch, Marc Lettau und nach seiner hoffentlich baldigen Genesung auch Patrick Fabian ist der Verein auf der sportlichen Seite mehr als vernünftig für die Zukunft aufgestellt. Wir sind der erste Verein seit Union Berlin, der nach einem Aufstieg in ein drittes Jahr Bundesliga geht. Mit Darmstadt und eventuell auch Heidenheim kommen zwei Vereine hoch, die einen kleineren Etat als wir haben werden. Vorsicht an der Bahnsteinkante. Das heißt nicht, dass wir jetzt wer weiß was spielen und Harakiri machen. Aber wir haben die ganz große Möglichkeit, ein etablierter Erstligist zu werden und den Verein extrem gut für die Zukunft aufzustellen.

Choreo vor dem Spiel gegen Leverkusen
Die Fans haben auch im letzten Spiel wieder alles gegeben inklusive schöner Choreo – Bild: einsachtvieracht

Was explizit hervorgehoben werden muss, ist die Anhängerschaft des VfL Bochum. Was sich hier seit der Aufstiegssaison entwickelt hat, da bekommt man einfach nur Gänsehaut. Es ist nicht lange her, dass wir vor 7.500 Zuschauern in der zweiten Bundesliga gespielt haben. Ich erinnere mich an diese ganzen kalten Herbst-Tage im Ruhrstadion, als man von einem Zweitligisten aus irgendeinem Dorf in Baden-Württemberg förmlich verprügelt wurde. Heute fahren mal eben 10.000 Bochumer und mehr nach Berlin. Fast wie auf Klassenfahrt. Als gebürtiger Bochumer rennst du durch die Menschenmassen und bist nur am Quatschen, weil du an jeder Ecke jemanden kennst. Es entwickelt sich eine absolute Begeisterung um den Verein. Jedes Spiel ist ausverkauft, die Leute prügeln sich förmlich um die wenigen Restkarten, die es bei fast 18.000 Dauerkarten noch gibt. Die Stimmung ist absolut atemberaubend, die Ränge verstehen es genau, wann Mannschaft support braucht. Das absolut richtungsweisende Spiel gegen Augsburg war für mich dafür das beste Beispiel. Aber auch, dass nach dummen Niederlagen wie gegen Schalke oder Stuttgart die Stimmung nicht kippt. Das, was wir an Können nicht auf dem Feld haben, weil die Kohle fehlt, müssen wir durch Einsatz wettmachen. Ein Pfeifkonzert hilft da nicht. Das hat jeder verstanden.

Und das hat diese Mannschaft zurückgegeben. Neben den etablierten Säulen wie Toto, Manu oder auch Zoller, haben Neuzugänge wie Hofmann, Stöger oder auch Förster einen ganz großen Teil dazu beigetragen, dass das Ruhrstadion gestern explodiert ist. Besonders hervorheben möchte ich hier auch einen Ivan Ordets. Dank der FIFA-Regelung wegen des Krieges in seinem Heimatland aus Russland zu uns gekommen, hat er keinen einfachen Start gehabt und ist am Ende absoluter Chef der Hintermannschaft geworden. Ich glaube, ich spreche für alle Bochumer, wenn wir uns wünschen würden, dass diese Vollmaschine in Bochum bleibt auch in der kommenden Saison seine schmerzhaften Grätschen für uns auspackt.

Foto ins Bermudadreieck rein, vom KAP aus.
Das Bermudadreieck war nach dem Spiel wie elektrisiert, brechend voll und blau-weiß bis in die tiefe Nacht. – Bild: einsachtvieracht

Besonders bemerkenswert finde ich, dass auch die zweite Reihe der Spieler, die man innerlich schon abgeschrieben hatte, im Endspurt der Saison wichtige Säulen wurden, weil das Stammpersonal schwächelte. Besonders hervorheben möchte ich Heintz und Janko. Vor allem Letzterer hat immer wieder harsche aber auch berechtigte Kritik seitens der Fans abbekommen. Im Endspurt dann noch solche Leistungen auszupacken – Hut ab.

Jetzt erstmal zwei Monate durchatmen. Zumindest keinen Stress auf dem Platz, dafür aber wieder die heiße Transferphase. Die Nerven werden es einem danken. Dieser VfL kostet Lebensjahre. Aufstieg aus der zweiten Bundesliga, Klassenerhalt die erste, Klassenerhalt die zweite. Corona-Pandemie, Lockdown, Angriffs-Krieg in der Ukraine. Das alles haben wir in den letzten drei Jahren erlebt. Kommt einem mittlerweile vor, wie eine halbe Ewigkeit. Ich kann hier nur den Kommentar eines englischen Moderators vor ein paar Wochen wiederholen „Bochum this isn‘t just football – this is religion on a saturday afternoon.“ Und genauso wird es im kommenden Jahr weitergehen. Jetzt schon voller Vorfreude. Unsere Heimat. Unsere Liebe.

Written by Claudio Gentile

Als gebürtiger Bochumer wurde ich das erste Mal im zarten Alter von sechs Jahren ins Ruhrstadion geschleppt. Der VfL verlor. Was auch sonst. Trotzdem ließ mich der Verein nicht mehr los und spätestens als ich ein paar Tage nach meinem ersten Stadionbesuch das legendäre Papagei-Trikot mit einem "Peter Peschel"-Flock überstreifen durfte, war es um mich geschehen. Das ist jetzt 26 Jahre, wenig Siege und viele Niederlagen her. Wo die Liebe im Fußball hinfällt, kann man sich ja bekanntlich nicht aussuchen. Und eine Liga kennt Liebe auch nicht.

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Choreo-Bild „Und kommst du in ein Stadion“

Einsachtvieracht-Stammtisch #56