Über zwei Monate ist Thomas Reis nun im Amt beim VfL Bochum. Zwei Monate voller gemischter Gefühle und voller Zittern um den VfL. Selten war die Abstiegsangst so greifbar wie in den letzten Monaten und noch nie vertraute man in so einer unruhigen Phase einem im Profibereich gänzlich unerfahrenen Trainer. Doch ist die Skepsis rund um Thomas Reis berechtigt und was hat sich geändert, seitdem das Bochumer Urgestein die Mannschaft übernommen hat? Schafft er es, den Verein zu stabilisieren oder steuern wir weiter einer ungewissen Zukunft entgegen?
Bei der Übernahme von Thomas Reis stand der VfL Bochum mit dem Rücken zur Wand. Mal wieder! Und doch – diesmal ist es gefühlt anders. Die Stimmungslage ist noch schlechter, denn all die Jahre des Kummers sind nicht vergessen. Nicht vergessen ist die katastrophale Hinrunde der Saison 2017/18, als der Verein nicht nur auf dem Platz, sondern auch neben dem Platz eine denkbar schlechte Figur abgegeben hat. Nicht vergessen ist die sportliche Performance in der Rückrunde der Saison 2018/19, in der man spielerisch nur selten Zweitligaformat abrufen konnte.
Kein Wunder also, dass die Stimmung nach dem Saisonstart unter Robin Dutt mit fünf sieglosen Spielen als schlechtestes Zweitligateam des Kalenderjahres 2019 einen neuen Tiefpunkt erreicht hatte. Schlimmer noch als das Sportliche – das Vertrauen in die Spieler und vor allem auch in den Sportvorstand war gänzlich verschwunden. In dieser Phase setzte der unter massiver Kritik stehende Sebastian Schindzielorz nun ausgerechnet auf einen Trainer, der noch nie eine Profimannschaft trainiert hatte. Die Skepsis ist verständlicherweise groß und nach nun neun Spielen unter Thomas Reis samt Länderpause ist es höchste Zeit, einen ersten Blick auf die Entwicklung des Teams unter dem Trainerdebütanten zu werfen.
Die Verunsicherung ist weiterhin greifbar
Eines der offenkundigsten Erkenntnisse lautet hierbei: Auch Thomas Reis kann nicht zaubern und die Verunsicherung im Team ist weiterhin greifbar. Unter dem gebürtigen Wertheimer fing sich die Mannschaft insgesamt 14 Tore in acht Ligaspielen ein – zwar im Durchschnitt weniger als unter Dutt, aber immer noch deutlich zu viele. In fast schon gewohnter Manier beginnt insbesondere nach eigenen Führungen das große Zittern und man ist immer für das ein oder andere Gegentor gut.
In Anbetracht der Leistung im Kalenderjahr 2019 ist diese Verunsicherung bei den Spielern nicht weiter verwunderlich, aber auf den zweiten Blick zeigt sich dann doch eine positive Entwicklung. Auch wenn defensiv noch zu vieles fehlt, um das Wort Stabilität überhaupt in den Mund nehmen zu können, so ist man zumindest ergebnistechnisch auf einem guten Weg. Mit 11 Punkten und 16 geschossenen Toren (nach Bielefeld der beste Wert der Liga) und nur einer Niederlage aus acht Spielen wäre der VfL auf Platz 6 der Tabelle seit der Amtsübernahme von Reis. Auswärts hat die Mannschaft dabei mit fünf Punkten schon fast doppelt so viel einfahren können als im gesamten Jahr 2019 zuvor unter Robin Dutt (lediglich drei Punkte). Selbstverständlich wären unter Reis noch deutlich mehr Punkte möglich gewesen, aber in Anbetracht der Ausgangssituation ist ein deutlicher Fortschritt zu erkennen.
Dieser Eindruck wird von den Expected Goals, also den durch die Schusspositionen zu erwartenden Toren bestätigt. Auch dort gehört der VfL unter Reis zum gehobenen Mittelfeld.
Die Expected Goals-Übersicht für die Zeit unter Thomas Reis sieht nach solidem Mittelfeld aus.
Die geringen non-shot Expected Goals könnten aber auf eine nach wie vor bestehende Schwäche im Spiel mit dem Ball hindeuten.
Die kommenden Heimspiele werden mehr Aufschluss geben. pic.twitter.com/t6y5NzyRbO— meinVfL_Stats (@VfL_Stats) November 18, 2019
Die Handschrift von Thomas Reis
Viel wichtiger noch als der reine Blick auf die Punkte – spätestens seit dem couragierten Auftritt im DFB-Pokal gegen die Bayern hat man das Gefühl, dass der Glaube an sich selbst allmählich wieder zurückkehrt. Das betrifft Fans wie Spieler gleichermaßen und genau daran muss man bei den wichtigen Heimspielen gegen Osnabrück und Aue wieder angesetzt werden.
Die taktische Marschroute dafür setzt Thomas Reis bereits, dessen Wirken nicht nur mit Blick auf die Punkte offensichtlich wird. Die wichtigste Maßnahme fernab von taktischen Feinheiten lautete dabei wieder mehr auf Kontinuität anstelle von permanenten Rochaden zu setzen – wie zuletzt unter Robin Dutt gesehen. Statt mit Fünferkette, tiefem Spielmacher im 4-1-3-2 oder doch einem „herkömmlichen“ 4-2-3-1 in den ersten fünf Partien – setzt Thomas Reis auf ein einziges System mit möglichst wenig Spielerwechseln.
Auch bei tieferem Einstieg in die Taktik ist das Prinzip der Kontinuität zu erkennen. Das 4-2-3-1 / 4-4-2 war in den erfolgreichen Zeiten unter Dutt gesetzt. Reis hat dies beibehalten und mit ein paar Anleihen aus der Verbeek-Zeit gewürzt.
Gegen den Ball ist die Basis wie unter Robin Dutt eine enge 4-4-2/4-2-2-2-Formation. Durch die höheren Flügelspieler werden die Außenverteidiger zugestellt und der Gegner ins Zentrum gelenkt. Dort warten Anthony Losilla und zuletzt wieder Robert Tesche auf Ballgewinne. Reis hat dabei die Aggressivität und Höhe des Pressing gegenüber seinem Vorgänger gesteigert. Grad in den Anfangsphasen lässt der VfL dem Gegner kaum Luft zum Atmen. Gegen Nürnberg und Pauli gab es so frühe Führungstreffer und auch gegen die Bayern konnte Simon Zoller bereits an der frühen Führung riechen.
Das Problem an der Ausrichtung mit den hohen Flügelspielern zeigt sich, sobald die erste Pressinglinie überspielt ist. Die Außenverteidiger müssen dann sehr große Räume abdecken. Auch das Nachschiebeverhalten in der Abwehrreihe ist dabei noch nicht optimal. Häufig folgen die Innenverteidiger ihren Mitspielern auf die Außen, wodurch im Strafraum Lücken entstehen. Reis ist zu Gute zu halten, dass er die Außenspieler zu permanenter Rückwärtsarbeit antreiben konnte. Gelingt es dem Außenverteidiger, das Tempo aus dem Spiel zu nehmen, spurtet Simon Zoller stets zurück, um seinen Hintermann zu unterstützen. Auch Danny Blum hat in dieser Disziplin deutlich zugelegt.
Mit dem Ball gibt es leichte Anleihen bei Gertjan Verbeek. Im Aufbau wird eine Dreierkette hergestellt, indem nur einer der Außenverteidiger herausrückt, während der andere in der Abwehrkette verbleibt. Im Anschluss daran wird entweder direkt in das offensive Zentrum gespielt, wo sich mit Lee und Ganvoula zwei Spieler im Zwischenlinienraum anbieten, oder der Weg über die Außen gesucht. Ersteres erinnert in guten Momenten bereits an die U19 des VfL Wolfsburgs, bei der Reis ein tolles Kurzspiel im Zwischenlinienraum etabliert hat. Mit Lee und Ganvoula hat er dort auch die richtigen Spieler. Beide sind stark in der Ballbehauptung und -verteilung, wobei besonders Ganvoula unter Reis riesige Fortschritte gemacht hat. Zoller bietet hier gute Läufe in die Tiefe an, während Blum für Verlagerungen bereit steht. Häufig können diese Angriffe jedoch noch nicht souverän vors Tor getragen werden, da das finale Zuspiel nicht immer gelingen will.
Wird der Angriff über die Außen vorgetragen, geht es beim VfL üblicherweise über links (41 % der Angriffe laut WhoScored), wo Soares und Blum ein dynamisches Duo bilden. Gab es am Anfang noch teilweise Abstimmungsprobleme, so finden die beiden immer besser zusammen. Blum nutzt sein Tempo und seinen starken Fuss sehr effektiv, um Flanken von der Grundlinie zu bringen. Mit Simon Zoller als von der rechten Seite einrückendem Stürmer neben unserer „Kongo-Kante“ Ganvoula ist stets für Abnehmer im Strafraum gesorgt. Durch den mit aufrückenden Soares und Robert Tesche gibt es zusätzliche Präsenz im Gegenpressing, sollte ein Ball im Dribbling verloren gehen.
Die Basis ist auf jeden Fall gegeben. Hoffentlich kann Reis die Winterpause nutzen, um die Defensive über eine kontinuierliche Intensität über die volle Spielzeit zu stabilisieren und in der Offensive an der Feinabstimmung zu arbeiten, und somit etwas weniger von der individuellen Qualität seiner Offensivspieler abzuhängen. Bei Wolfsburgs U19 war er in der Lage, spektakuläre Kombinationen einzustudieren. Gelingt Reis dies auch beim VfL, dann können wir uns auf weitere Spektakel freuen.
Die Starts der VfL-Trainer im Vergleich
Im Vergleich mit anderen VfL-Trainer der jüngeren Vergangenheit und deren Punkteausbeute nach acht Spielen wird deutlich, dass Thomas Reis mit den bislang elf geholten Punkten im Mittelfeld anzusiedeln ist. Gleich mehrere Trainer errangen in den ersten acht Spielen ihrer Station beim VfL mehr als elf Punkte. Unangefochten auf Platz 1 steht in dieser Statistik Marcel Koller. In den ersten acht Spielen der Saison 2005/06 konnte er mit seinem Team satte 18 Punkte holen. Dahinter liegt Reis‘ Vorgänger Robin Dutt mit sage und schreibe 17 Punkten. Peter Neururer holte bei seinem zweiten Engagement mit starken 16 Punkten aus acht Spielen (saisonübergreifend) auch eine beachtliche Ausbeute. Jens Rasiewski und Andreas Bergmann (jeweils 13) sowie Gertjan Verbeek und Friedhelm Funkel (jeweils 12) konnten ebenfalls mehr Zähler auf der Habenseite verbuchen, als es Thomas Reis konnte.Mit Karsten Neitzel gab es in der Geschichte einen weiteren Trainer, der aus den ersten acht Spielen elf Punkte holte. Es gibt aber auch Trainer, die weniger Punkte als Reis ergatterten. Die beiden Trainer mit der kürzesten Amtszeit beim VfL holten zehn Punkte (Ismail Atalan) bzw. sogar nur acht Punkte (Ernst Middendorp). Und selbst der bislang erfolgreichste VfL-Trainer Klaus Toppmöller konnte mit sieben Punkten keinen guten Start verzeichnen (dies allerdings in der Bundesliga).
Zukunft ungewiss
Noch ist es allerdings viel zu früh, um die Verpflichtung von Thomas Reis abschließend zu bewerten oder gar Prognosen in die ferne Zukunft zu wagen. Zu wenig Spiele wurden absolviert und viel zu fragil wirkt das komplette Konstrukt. Die Tabelle gibt bis zur Winterpause jedenfalls so ziemlich alles her, von einem Abstiegsplatz bis hin zu einem Platz im oberen Tabellendrittel. Kann Thomas Reis der neue Hoffnungsträger in Bochum sein oder kann er auf lange Sicht der Mannschaft nicht die nötige Stabilität vermitteln? Sicherlich wird niemand hierauf eine seriöse Antwort geben können und auch an dieser Stelle verzichte ich gänzlich auf Prognosen. Fest steht hingegen, dass das Vertrauen, welches Schindzielorz in Reis gesetzt hat, sich zumindest bislang gerechtfertigt hat und dass sich Thomas Reis eine echte und vorbehaltlose Chance redlich verdient hat. Es lag ganz gewiss auch nicht an Reis, was in den letzten Jahren rund um den VfL passiert ist. Noch etwas ist sicher – selbst wenn wir allen Grund haben, wütend auf die vergangenen Geschehnisse oder einzelne Amtsinhaber zu sein, so bringen uns Unmutsbezeugungen insbesondere während des Spiels in der aktuellen Lage nicht weiter. Viel zu viel steht auf dem Spiel, denn welche Konsequenzen ein Abstieg wirklich mit sich bringen würde, ist nur schwer absehbar.
Es ist daher an der Zeit, endlich wieder auf allen Ebenen als Einheit zu agieren und die Skepsis und den Unmut vergangener Tage zumindest vorübergehend auf die Seite zu schieben. Nicht nur die Mannschaft, sondern auch wir Fans müssen wieder den Glauben an einen Sieg gewinnen und jeder muss bei sich selbst anfangen. Genau wie die Verunsicherung der Mannschaft sich auf die Ränge überträgt, wirken sich auch die Geschehnisse in den Fankurven auf die Mannschaft aus. Gegen die Bayern hat man gespürt, was möglich ist, wenn Mannschaft und Fans wieder als Einheit agieren. Es liegt nun an uns, auch Osnabrück und Aue spüren zu lassen, was es heißt, im Ruhrstadion zu spielen.
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