3:3 – zwei extreme Halbzeiten, getrennt durch eine jetzt schon legendäre Halbzeitpause. Danach der große Knall. Das Spiel des VfL Bochum gegen Wehen Wiesbaden bot eine ganze Menge. Wir versuchen mit etwas Abstand eine Analyse der Ereignisse, die Robin Dutt dazu brachten, seine Position zur Diskussion zu stellen.
Strahlender Sonnenschein, 28 Grad – eigentlich perfekte Bedingungen, um gegen die ebenfalls schwach in die Saison gestarteten Wiesbadener den Bock umzustoßen und die ersten drei Punkte dieser Spielzeit zu holen. Eigentlich. Nach 45 min wurde die Mannschaft von einem gellenden Pfeifkonzert in die Kabine geschickt. 0:3 stand auf der Anzeigetafel. Was war passiert?
Die Umstellungen gehen nicht auf
Robin Dutt musste aufgrund von Verletzungen umstellen. Für Chong-yong Lee kam Milos Pantovic in die Mannschaft, Tom Weilandt wurde durch den wieder genesenen Danny Blum ersetzt. Formativ behielt unser Cheftrainer die 4-2-3-1/3-4-2-1-Mischformation aus dem HSV-Spiel bei. Simon Lorenz blieb als Rechtsverteidiger tiefer, während Danilo Soares als Linksverteidiger bei Ballbesitz ins Mittelfeld aufrückte. Da die Ausgangslage eines Heimspiels gegen den Tabellenletzten den VfL dieses mal in die aktive Rolle zwang, war überwiegend die Dreierkette zu sehen. Sie war auch die offizielle Formation im Spielbericht.
Gegen die 4-4-1-1-Defensivformation der Wiesbadener ging dieses System jedoch nicht wirklich auf. Die drei Innenverteidiger waren gegen den einen Stürmer verschenkt. Anspiele auf die Sechser waren durch herausrückende Bewegungen aus dem Mittelfeld der Wiesbadener potenziell gefährlich. Die rechte Außenbahn war nicht nutzbar, da mit Milos Pantovic ein Spieler dort eingesetzt wurde, der alles nur kein Flügelläufer ist. Der junge Serbe ist ein Typ wie Mario Götze. Er unterstützt die Struktur, in dem er in engen Zonen die wichtigen Verbindungsräume besetzt. Dort kann er kombinativ über schnelle Pässe oder mit kurzen Dribblings Bälle aus Drucksituationen herausspielen und so Dynamik aufbauen. Er muss also zwischen vielen anderen Spielern, als Zehner, eingerückter Außen oder als hängende Spitze bzw. falsche Neun eingesetzt werden. Wenn man ihn jedoch wie am Samstag als isolierter Flankenläufer aufstellt, nimmt man ihm alle diese Stärken.
Die strukturellen Probleme wurden von Wehen Wiesbaden hart bestraft. Durch die freien Räume vor ihnen ließen sich unsere Halbverteidiger immer wieder zu Dribblings verleiten. Als sie jedoch an der gegnerischen Mittelfeldreihe ankamen, hatten sie nicht immer Anspielstationen nach vorne. Die Sechser waren dann bereits neben ihnen, so dass sie nur potenziell gefährliche Horizontal- oder Rückpässe spielen konnten. Durch einen haarsträubenden Fehlpass von Armel Bella-Kotchap geriet man dann auch 0:1 in Rückstand (10.), da die Wiesbadener den Konter perfekt ausspielen.
Konnte mal ein Pass zwischen die Linien des Gegners angebracht werden, kam der VfL über die Halbräume und das Zentrum zu einigen guten Chancen. Das Spiel in die Box funktionierte diesmal, Soares in der 13. und Ganvoula in der 42. vergaben jedoch. Man hat eben keinen Terodde mehr im Sechszehner stehen, der aus ganz wenig ganz viel macht. Doch drei Euro ins Phrasenschwein – „Macht man vorne die Dinger nicht, dann bekommt sie auf der anderen Seite eingeschenkt“. Fehlendes Nachrücken der Offensivspieler führte in letzter Linie zu einer Unterzahlsituation vor dem eigenen Sechszehner und folglich zum 0:2-Rückstand durch Dittgen (19.).
In der 26. Minute reagierte das Trainerteam. Ulrich Bapoh kam für Bella-Kotchap und die (verkappte) Dreierkette würde aufgelöst. Es gab die Rückkehr zum klaren 4-2-3-1 mit Bapoh als rechtem Flügelspieler. Milos Pantovic wurde zum ungesicherten Außenverteidiger – die wohl einzige Rolle, die ihm noch weniger liegt als die des Flügelverteidigers. So bestraft verursachte er das 0:3, da er mit zwei Gegnern im Rücken noch einer sicheren Kurzpassvariante zum Auflösen der Situation suchte, anstatt den Ball zur Ecke zu klären.
Lang und weit bringt Sicherheit
Was genau in der Kabine passierte, dazu haben wir keine sicheren Quellen. Glaubt man Manuel Riemann und Reviersport, so überließ Dutt Sebastian Schindzielorz die Motivationsansprache und Riemann und Losilla die Taktikanpassung. Was wir dann wieder beobachten konnten ist, dass in der zweiten Hälfte vollständig auf ein konstruktives Aufbauspiel verzichtet wurde. Die Bälle wurden entweder direkt lang geschlagen oder über die im 4-2-3-1 nun doppelt besetzten Flügel nach vorne gespielt, um sie so schnell wie möglich in den Strafraum zu flanken. Am Ende wurden 34 Flanken notiert, davon alleine 14 von Pantovic.
Dieser Ansatz wurde eigentlich taktisch nicht besonders gut gespielt. Mit jeweils 2 Spielern an jeder Außenlinie und 2-3 Angreifern in letzter Reihe hatte man kaum Leute in den Verbindungsräumen oder zum Einsammeln der herausgeköpften Bälle. Direktes Gegenpressing nach den Flanken war kaum möglich. Stattdessen mussten Anthony Losilla, Vitaly Janelt und die Innenverteidiger (besonders Saulo Decarli ist hier hervorzuheben) sehr riskant und weit aus der Restverteidigung herausrücken, um die Konter zu unterbinden.
Dass dieser Ansatz aufging, ist viel mehr psychologisch als taktisch zu begründen. Die Bochumer hatten nichts mehr zu verlieren und verfolgten nun eine klare Strategie. Wehen Wiesbaden konnte hingegen nur verlieren. Sie standen dauerhaft unter Druck mit dem Risiko, dass vielleicht doch mal ein Ball durchrutscht. Mit der Führung im Rücken ging auch die Schärfe verloren, so dass das Pressing weniger intensiv und die Konter nicht mehr so brutal wie noch in der ersten Halbzeit zu Ende gespielt wurden.
Dribblings bringen die Wende
Mit Bapohs 1:3 nach einer Ecke (56.) wurden diese psychologischen Effekte verstärkt. Der VfL bekam die zweite Luft, während die Verlustangst der Wiesbadener größer wurde. Dutt brachte mit Jordi Osei-Tutu für Janelt noch mehr Tempo und Risiko. Zusammen mit Bapoh, der nach seinem Treffer immer mehr ins Spiel fand, wurden nun neben den langen Bällen auch verstärkt Dribblings genutzt, um die Gäste zu überrumpeln. Dazu stieß Osei-Tutu bei Ballbesitz auf der rechten Seite im Halbraum zwischen den Innen- und Außenpositionen der gegnerischen Ketten vor. Die beiden machten vor, wie es in Zukunft aussehen könnte. Wenn man die Zuspiele aus der Abwehr direkt nach vorne mitnimmt und Dynamik erzeugt, kann man jeden Gegner unter Stress setzen.
Durch Osei-Tutus Vorstöße, war Pantovic weiterhin an der Außenlinie zur Strafarbeit (isoliertes Flanken und Verteidigen) verdonnert. Sebastian Maier ging zurück auf die Sechs. Aus dem 4-2-3-1 wurde ein 4-2-4 bzw. 3-2-5 bei ballnah aufrückendem Außenverteidiger. Trotz einiger spektakulärer Szenen des Pärchens auf der rechten Seite, war zwischen der 60. und 80. Minute etwas die Luft raus. Der Druck ließ nach, während Wiesbaden noch zwei gefährliche Kontersituationen hatte, die sie jedoch nicht konsequent ausspielten (72. Knöll, 78. Knöll und Schäffler).
Mit der letzten Luft kam es dann zum Grande Finale. Osei-Tutu beförderte einen verlängerten Einwurf gefühlvoll ins lange Ecke, 2:3 (87.). Angepeitscht von Manuel Riemann, den nun nichts mehr in seinem Tor hielt, wollte der VfL nun mit Gewalt den Ausgleich. Mit einem wahnwitzigen Dribbling, bei dem unser Keeper seine Abwehrspieler und Sechser mal eben überlief und nebenbei noch einen Wiesbadener stehen ließ, spielte er Osei-Tutu frei. Dieser steckte auf Bapoh durch, der im Strafraum von den Beinen geholt wurde. Silvere Ganvoula blieb trotz seines bis dahin gebrauchten Tages cool und verwandelte zum Ausgleich (90.)
Der Siegtreffer sollte jedoch nicht mehr fallen. Stattdessen wurde Bapoh nach einem Losreißen (von einem Check kann kaum gesprochen werden) mit Rot vom Platz gestellt. Eine besondere Erwähnung gilt somit Schiedsrichter Daniel Schlager und sein Gespann. Nicht nur, dass sie mehrere kleinere Entscheidungen wie Einwürfe und Ecken falsch trafen, diese rote Karte gegen Bapoh war an Lächerlichkeit nicht zu überbieten: Es ist eine irre Aufholjagd. Es läuft vielleicht der letzte Angriff. Bapoh ist durch und sprintet Richtung gegnerische Abwehrreihe. Sein Gegenspieler verkrallt sich in ihm, Bapoh will jedoch nicht fallen und reißt sich los. Dafür bekommt er Rot. Warum diese Situation im Keller nicht geprüft wurde, wäre auch spannend zu wissen.
Fazit
Wenn es nicht den großen Knall auf der Pressekonferenz gegeben hätte, man könnte von einem ganz normalen Spiel des VfL Bochum sprechen. Durch dumme Fehler brachte man sich selbst in Rückstand. Mit viel Einsatz und der Brechstange kam man wieder zurück. So weit, so bekannt.
Lichtblicke im Spiel waren Ulrich Bapoh und Jordi Osei-Tutu, die nach ihren Einwechslungen richtig Gas gegeben haben. Bapoh ist jetzt leider erst einmal gesperrt. Osei-Tutu ist in offensiverer Position jedoch eine echte Option. Er könnte von der Umstellung auf die Mischformation mit Dreierkette profitieren. Alternativ könnte er auch im 4-4-2/4-2-3-1 als Rechtsaußen eingesetzt werden. Damit bleibe jedoch das Problem des fehlenden Rechtsverteidigers bestehen – aber wer weiß, vielleicht zaubert Sebastian Schindzielorz diese Woche ja noch eine Alternative aus dem Hut.
Im Gegensatz dazu zeigten einige Fans auf der Ostkurve heute ihre dunkele Seite. In der Situation, in der Toto am Kopf getroffen und vor der eigenen Kurve im Sechzehner liegen blieb, wurde der Spieler, dem man mangelnden Einsatz am wenigsten vorwerfen kann, von den eigenen Fans mit Bier beworfen und beschimpft. Bei allem Frust über die Geschehnisse auf dem Platz – ein letztes bisschen Anstand und Feingefühl sollte auch der emotionalste Fan haben…
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