„Da geht es halt um Geld“ – ein Blick nach St. Pauli

Foto: Claudio Gentile

Unser VfL Bochum trifft in der englischen Woche und zum Abschluss der Hinserie zu Hause auf den FC St. Pauli aus Hamburg. Nach Heidenheim das zweite Schicksalspiel in ganz kurzer Zeit. Mit 14 Punkten aus 16 Spielen ist der Auftsteiger aus dem Norden aktuell über dem Strich. Bei einem Sieg kann der VfL auf drei Punkte heranrücken. Wir sprechen mit Michael von Millernton über die Saison, das Umfeld und den Verein. 

Wie ist aktuelle Stimmung bei St. Pauli? Überglücklich mit der aktuellen Tabelle oder noch Angst, dass es schnell wieder nach unten gehen kann?

Michael: Sowohl als auch würde ich sagen. Wir sehen halt, wie gut die Spielanlage der Mannschaft ist, wie sie gegen Spitzenmannschaften spielt. Leider haben wir da ein paar Punkte liegen lassen. Wir bräuchten jetzt mal zwei, drei Siege am Stück. Ich denke, dann wären alle Bedenken mehr oder weniger zerstreut. Dass diese Mannschaft die Klasse für die Bundesliga hat, hat sie in gut 80 Prozent der Spiele unter Beweis gestellt.

Trotz vieler Verletzungen und einem nominell eher schwächeren Kader steht St. Pauli über dem Strich. Was wurde besser gemacht als bei Konkurrenten wie Kiel und uns?

Ich denke, dass man das ganz klar an den Zahlen ablesen kann. Nach Gegentoren gemessen haben wir mit nur 20 Gegentoren die zweitbeste Abwehr der Liga. Wir haben dabei sogar schon fünfmal zu null gespielt. Das sind außergewöhnliche Werte für einen Aufsteiger. Zudem kann man auch an den knappen Ergebnissen gegen Bayern, Leverkusen, Dortmund, Frankfurt usw. sehen, dass keine der Mannschaften aus dem obersten Regal in der Lage ist, uns auseinander zu spielen, wie man so schön sagt. Am Ende des vergangenen Jahres sind wir wirklich auf dem Zahnfleisch gekrochen und haben es trotzdem geschafft, noch einen Überraschungssieg in Stuttgart zu holen. Das hatte ich im Vorwege so nicht auf dem Zettel. Aktuell befinden wir uns in der Lage, dass länger verletzte Spieler kurz vor ihrer Rückkehr stehen, und in der kurzen Winterpause haben wir drei Neuzugänge geholt, die ebenso den Kader breiter machen. Zwei davon sind meines Erachtens auch direkte Verstärkungen. Noah Weißhaupt und James Sand wurden ja auch in der zweiten Halbzeit gegen Frankfurt eingewechselt. Abdoulie Ceesay ist eine Wette auf die Zukunft, könnte aber auch schon in der Rückrunde ab einem gewissen Punkt wichtig werden. Auch er stand im Kader gegen die Eintracht.

Wer sind Eure Schlüsselspieler? Auf wenn sollten auch fremde Fans achten?
Das kann man als so eine Art Achse bezeichnen. Von hinten nach vorn: Torwart Nikola Vasilj, im Prinzip die gesamte Verteidigung – allen voran Eric Smith, der auch für ein kreatives Momentum in der Offensive steht. Kapitän Jackson Irvine im Mittelfeld und im Sturm Johannes Eggestein, der für unser Spiel einen besonderen Wert hat, weil man ihn als Spieler nicht unbedingt in Toren, sondern in der Währung „Bindeglied zum Mittelfeld, Übersicht und Arbeitspensum“ bemessen muss. Ich hoffe, er ist gegen Bochum wieder einsatzbereit, denn gegen Frankfurt fiel er kurzfristig wegen einer Magen-Darm-Grippe aus. Es fiel mir übrigens schwer, hier bestimmte Leute herauszupicken, denn wir kommen über die oft beschworene mannschaftliche Kompaktheit, in der jeder wichtig ist. Denn auch die offensiven Spieler nehmen einen wichtigen Part bei der defensiven Arbeit ein. Wo wir wieder bei der geringen Anzahl an Gegentoren wären.

Wie beurteilst Du aus der Ferne die Entwicklung des VfL unter Dieter Hecking?
Ich war schon etwas überrascht, dass sich der VfL für Hecking als Trainer entschieden hat. Ich dachte wirklich, er hätte sich von seinen Trainerambitionen nach Nürnberg gänzlich verabschiedet und man würde ihn demnächst auf irgendeiner Sportdirektoren-Position wiedersehen. Was mir natürlich aufgefallen ist, dass er eure Abwehr maßgeblich stabilisiert hat. Jedenfalls bis zum jüngsten Spiel in Mainz. Da fand ich die defensive Arbeit eher ungenügend. Ich denke, jetzt muss er die defensive Arbeit mit dem offensiven Teil in der Mannschaft synchronisieren, und da bin ich mir eher nicht so sicher, ob ihm das gelingen wird.

Wie beurteilst Du die Arbeit von Alexander Blessin?

Als positiv. Als Hintergrund müssen wir uns da noch einmal in den Sommer 2024 hineinversetzten. Wir hatten mit Fabian Hürzeler eine wahnsinnig erfolgreiche Zeit, die dann ja auch im Aufstieg gipfelte. Wir haben fast das Verlieren verlernt in den beiden anderthalb Saisons mit ihm. Das hat natürlich auch eine gewisse Erwartungshaltung bei den Fans mit sich gebracht. Als dann die Zeichen bei Hürzeler auf Abschied standen, haben wir uns beim MillernTon frühzeitig Gedanken gemacht, welcher Trainertyp bzw. welcher konkrete Trainer die Position von Hürzeler übernehmen könnte. Bevor das überhaupt spruchreif wurde, hatte mein Kollege Tim schon den Namen Alexander Blessin ins Spiel gebracht. Danach ging dann alles ziemlich schnell.

Zu Blessin muss man sagen, dass er ein ziemlich sympathischer Mensch ist und eine angenehme Lockerheit mitbringt. Ich denke, dass er den FC St. Pauli gut an den Bundesliga-Fußball gewöhnt hat und auch seine taktische Ausrichtung Stück für Stück so angepasst hat, dass man jetzt sagen kann, dass er eine ausgewogene Linie zwischen den vorhandenen Spielern und seiner Spielphilosophie gefunden hat. Ich vertraue seiner Arbeit umfassend.

Ist die Transferstrategie im Winter-Transferfenster St. Pauli-Like oder gänzlich neu?

Gänzlich neu ist das ganz sicherlich nicht. Da kann man sich auch mal die Transfers der letzten fünf, sechs Jahre von Andreas Bornemann im Winter anschauen. Hier darf man auch die Arbeit von Jan Sandmann (verantwortet seit März 2020 die Scouting-Aktivitäten) nicht unterschätzen. Beide haben in Team-Arbeit schon richtige Knaller, nicht nur im Winter, verpflichtet – Viktor Gyökeres, Leo Østigård, Omar Marmoush, Daniel-Kofi Kyereh, Eric Smith, Jackson Irvine und Marcel Hartel, um nur die wichtigsten zu nennen. Die Liste ist lang und sie ist erfolgreich. Für mich hatten die beiden vor allen Dingen in der Winterpause immer wieder ein gutes Gespür, den Kader zum Teil mit Leihspielern so aufzuwerten, dass die Mannschaft für die Rückrunde einen direkten Impact erfahren hat und ganz einfach besser wurde.

Wird die Fan-Anleihe für das Millerntor begrüßt oder Schrillen die Höllenglocken?

Zunächst einmal muss man hier fein unterscheiden. Es handelt sich bei der „Football Cooperative St. Pauli von 2024 eG“ ja um eine richtige Genossenschaft, wie sie in Deutschland auch in anderen Bereichen bekannt ist, so zum Beispiel im Bereich des Wohnungsbaus. Eine Fan-Anleihe, wie es sie auch bei anderen Clubs gibt, ist das nicht. Ich persönlich begrüße die Gründung der Genossenschaft sehr und wie man anhand der Zahlen sehen kann, auch die unmittelbaren Fans des Vereins. Also die, die auch im Stadtteil bzw. in Hamburg wohnen und ins Stadion gehen. Um das erste ambitionierte Ziel von 30 Millionen zu erreichen, braucht es noch etwas, aber auch mit 20 Millionen lässt sich das erste Etappenziel erreichen, also den Mehrheitskauf unseres Stadions. Es ist ein komplexes Thema, daher empfehle ich für mehr Hintergrund einen recht aktuellen Beitrag von meinem Kollegen Maik, der am 9. Januar erschienen ist.

Fällt die Arbeit von Wilken Engelbracht auf?

Das kann ich so nicht direkt beantworten, weil finanzielle Themen immer recht komplex sind und man sich dafür Zeit nehmen muss. Ich kann aber sagen, dass Wilken auffällt. Nicht nur wegen seiner prägnanten Stimmlage, sondern auch, weil er in der Lage ist, vielschichtige Themen einfach darzustellen und mit anschaulichen Bildern zu verdeutlichen. Das hat er nicht nur im Zuge der Genossenschaftsgründung unter Beweis gestellt, sondern bereits auf zwei Mitgliederversammlungen. Wenn man nach einer direkten Auffälligkeit sucht, kann man sagen, dass er bei einem Jahresergebnis von minus fünf Millionen Euro gestartet ist und kürzlich eine Null für das letzte Geschäftsjahr verkündet hat. Da hat er sicherlich einen großen Anteil dran.

Ist die immer weiter steigende Vermarktung des Vereins noch St. Pauli?

Hier müsste man natürlich erst einmal klären, was damit gemeint ist. Denn ich habe nicht das Gefühl, dass es eine steigende oder ungewöhnliche Vermarktung beim FC St. Pauli gibt. Eine steigende Vermarktung ist mittlerweile zu einem gern genutzten Narrativ geworden, wenn man über den FC St. Pauli spricht. Hat sicherlich damit zu tun, dass man davon ausgeht, dass da die „Linksgrünversifften“ mit ihrer Weltansicht stehen und da passen kapitalistische Strukturen nicht so richtig gut dazu. So die Annahme „der Menschen da draußen“. Aber generell ist das doch schon immer so, seit St. Pauli ambitioniert Profifußball spielt. Da geht es halt um Geld. Aber zum Hintergrund, der verdeutlicht, dass wir in dem Sinne keine steigende Vermarktung haben und uns von anderen Clubs unterscheiden, deren Fans uns das gern unterstellen: Unser Stadion heißt nach wie vor Millerntor. Und daran wird sich auch nichts ändern, denn der Stadionname darf per Vereinssatzung nicht veräußert werden. Bei uns wird weder die 15, noch die 40. oder 75. Minute von einem Sponsor präsentiert. Auch die Ankündigung der Ecken ist ohne Werbung. Aus einer Gesamtperspektive betrachtet kann man sagen, dass der Verein hier freiwillig auf eine Menge Geld verzichtet. Die Profimannschaft ist nicht aus dem Verein ausgegliedert und einer AG zum Opfer gefallen, wenn ich hier dann in Richtung eines Hamburger Zweitligisten schaue. So wählen die Mitglieder ihr Präsidium noch zu einhundert Prozent selbst. Und selbst die Genossenschaft ist ja ein Indiz dafür, dass wir keinen beliebigen und austauschbaren Investor (Stichwort hier auch: Multi Club Ownerships) oder eine Einzelperson in den Verein lassen, die uns dann erzählen, wie wir zu handeln haben. Auch da schaue ich wieder auf einen Zweitligisten, der hier in der Nähe spielt. Wir verkaufen sicherlich etwas mehr Merch als andere Clubs. Das hängt dann damit zusammen, dass sich viele Menschen auf den Wertekanon des FC St. Pauli einigen können und dahinterstehen. Das muss dann nicht einmal etwas mit Fußball zu tun haben.

Mit Puma gibt es seit Saisonbeginn einen neuen Ausrüster. Zuvor stattete man sich jahrelang selber aus. Ist das eine positive Entwicklung, oder wird das in der Fanszene kritisch gesehen?

Ich würde behaupten, dass das erst einmal ein Erfolg war, dass wir entschieden haben, die Ausrüstung mit einer eigenen Marke selbst in die Hand zu nehmen. Zu dieser Entscheidung gehört ganz einfach, dass man das Mindset hat, etwas verändern zu wollen. Sicherlich war das eine Herkulesaufgabe und letztendlich waren die Verkaufszahlen dann wohl nicht so, dass man das Projekt dauerhaft hätte weiterführen können. Auch hier möchte ich einen Beitrag von Maik für mehr Tiefgang verlinken.

Hand aufs Herz: Welche Liga bockt mehr?

Erste Liga, auf jeden Fall. Wir hatten jetzt zuletzt sehr schöne und erfolgreiche Jahre in der Zweiten Liga. Und natürlich macht es immer Spaß, mehr zu gewinnen als zu verlieren. Aber ich habe einfach Bock darauf, dass wir uns sukzessive in der ersten Liga verbessern und uns etablieren.

Vielen Dank fürs Gespräch lieber Michael. 

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Autor: Claudio Gentile

Als gebürtiger Bochumer wurde ich das erste Mal im zarten Alter von sechs Jahren ins Ruhrstadion geschleppt. Der VfL verlor. Was auch sonst. Trotzdem ließ mich der Verein nicht mehr los und spätestens als ich ein paar Tage nach meinem ersten Stadionbesuch das legendäre Papagei-Trikot mit einem "Peter Peschel"-Flock überstreifen durfte, war es um mich geschehen. Das ist jetzt 26 Jahre, wenig Siege und viele Niederlagen her. Wo die Liebe im Fußball hinfällt, kann man sich ja bekanntlich nicht aussuchen. Und eine Liga kennt Liebe auch nicht.

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