Nach dem Bundesliga-Abstieg und der Neubesetzung im Präsidum sollte beim VfL Bochum alles besser werden. Doch der Saisonauftakt gegen Darmstadt 98 offenbart grundlegende taktische Probleme. Unser Bericht zwischen Fanfrust und Taktikanalyse zeigt: Das ambitionierte Aufbauspiel und das 3-5-2-System brauchen noch grundlegende Updates.
Mit einem deutlichen 4:1 (2:1) schickte Darmstadt 98 unseren VfL Bochum nach Hause. Dreifach-Torschütze Lidberg und ein später Treffer von Vukotic besiegelten die Niederlage. Das Team fand der trotz des zwischenzeitlichen Ausgleichs durch Broschinski nie wirklich ins Spiel.
Fanfrust entlädt sich in Systemkritik
Die Reaktionen meiner Kollegen in den verschiedenen WhatsApp-Gruppen gleichen einem emotionalen Vulkanausbruch. „Diese Scheiße mit den 3 dahinten ist doch komplett fürn Arsch!!!“ bringt die Grundstimmung auf den Punkt. Die Kritik zielt dabei auf mehrere Ebenen: Die Transferpolitik wird als planlos empfunden, was sich in Kommentaren wie „Hätte man da junge Perspektivspieler geholt, aber doch nicht so alte Nixkönner“ widerspiegelt. Besonders bitter stößt den Anhängern die Abkehr vom schnellen Flügelspiel auf. „Ach, was hat das mal Spaß gemacht, mit den schnellen Außen“ – dieser nostalgische Rückblick vereint sich mit der Kritik am neuen System: „Diese 4-2-3-1 Taktik haben sie mit ihrer ganzen Transferpolitik komplett zerstört.“ Die Fans sehen dabei nicht nur einzelne Fehler, sondern ein systematisches Versagen: Keine Kreativität, kein Tempo, keine Standardspezialisten und eine Bank ohne Alternativen. Ein Fan fasst die Situation besonders drastisch zusammen: „Das ist die schlechteste und destruktivste Herangehensweise, die ich jemals bei einem angeblichen Favoriten auf den Titel in einer Liga gesehen habe.“ Die Prognosen sind entsprechend düster: „Mal schauen ob wir vorm 7. Spieltag nen Dreier holen.“
Was gibt der Kader überhaupt her?
Die Fans sehnen sich nach dem einfachen aber effektiven Spielansatz aus der Aufstiegssaison und den ersten Bundesligajahren. Mannorientiertes Pressing, hohe Ballgewinne und schnelle Angriffe und Konter über die Flügel ließen damals, eventuell in Gedanken auch etwas heroisiert, die Herzen höher schlagen.
Schon die Transfers vor der letzten Bundesligasaison haben den Kader von dieser Spielidee entfernt. Spieler wie Antwi-Adjei und Asano wurden damals wie heute nicht ersetzt. Außerdem fehlen mit Riemann und Stöger essenzielle Initiatoren der schnellen Angriffe.
Schnelle, individuell starke Flügelspieler sind teuer und nach den Transfers zum Ersatz der Abwehrreihe (Vogt, Strompf, Kleine-Bekel, Morgalla) und für neue Alternativen im Sturm (Ibrahim Sissoko, Clairicia) wurde das Geld eher in geliehene Talente für das Mittelfeld (Onyeka, Wätjen) und einen weiteren Schienenspieler (Rösch) investiert. Eventuell auch, da man mit Abgängen von Ibrahima Sissoko und Bero rechnete. Hier setzt die Kritik an.
In den Interviews zur Präsidiumswahl wurde die Fokussierung des Kaders auf einen spielerischen und dominanteren Ansatz im Nachhinein als Fehler bezeichnet. Als einer der Favoriten in der zweiten Liga ist dieser Schwerpunkt jedoch alternativlos. Spieler wie Onyeka und Wätjen hatten deshalb Priorität, um das Spiel aus dem Zentrum zu lenken und anzukurbeln. Nun sind sie verletzt oder warten hinter den Säulen der letzten Saison auf ihren Einsatz. Die Frustration ist mehr als verständlich.
Aufgrund der Einschränkungen im Budget konnte der Kader nicht auf mehrere Systeme ausgelegt werden. Für ein 4-2-3-1 und 4-3-3 fehlen die offensiven Flügelspieler. Bamba ist noch nicht reif genug, Holtmann zu unbeständig. Hecking setzte deshalb auf eine andere Lösung.
War es überhaupt ein 3-5-2?
Was aktuell als 3-5-2 kritisiert wird, entpuppte sich bei genauerer Analyse als komplexes Hybrid-System mit asymmetrischer Grundausrichtung. Besonders auffällig: Die unterschiedlichen Interpretationen der Außenpositionen. Während Rösch auf der rechten Seite deutlich offensiver agierte und im Pressing grad zu Beginn oft in ein 4-4-2 vorschob, blieb Wittek links defensiver orientiert. Diese Asymmetrie hatte direkte Auswirkungen auf die gesamte Statik: Vogt verschob sich auf die rechte Innenverteidigerposition, Bero wich auf die linke Seite aus, während Morgalla auf der rechten Seite das Gleichgewicht halten sollte. Broschinski pendelte aus dem Zentrum oft nach rechts, um Rösch Optionen zu bieten.

Von den Spielerrollen macht diese Asymmetrie durchaus Sinn. Rösch kann sowohl Außenverteidiger als auch Flügelstürmer spielen und war in diesem Spiel einer der Lichtblicke im Ballbesitzspiel. Morgalla ist ein Hybrid aus Innen- und Außenverteidiger. Broschinski weicht gerne auf den rechten Flügel aus. Bero kann vom Flügel ins Pressing gehen und Läufe in die Tiefe anbieten.
Die Flexibilität des Systems zeigte sich besonders ab der 20. Minute: Rösch zog sich zeitweise zurück, um beim Auflösen des Darmstädter Pressings zu helfen. Sissoko kippte zentral ab, um mit Vorstößen in den Rücken der Stürmer zu kommen. Morgalla schob dafür ins Mittelfeld vor, um Räume für Vogt und Rösch zu schaffen. Diese Rochaden sollten helfen, führten aber auch zu erheblichen Abstimmungsproblemen.
Die von den Fans kritisierte Dreierkette war also weniger ein starres System, sondern vielmehr der Versuch einer flexiblen Interpretation – die jedoch teilweise an ihrer eigenen Komplexität scheiterte. Grad im Pressing wurde bestimmte Räume angeboten, jedoch nicht ausreichend angelaufen. Die Entstehung der Ecke vor dem 3:1 offenbart exemplarisch die von Hecking kritisierte Problematik im Defensivverhalten.
„Es gab viele Situationen, in denen wir in Überzahl nicht konsequent nach vorn durchgedeckt haben“
Dieter Hecking (Quelle: VfL Bochum)
Während die beiden Achter (Pannewig zentral, Bero links) nach links verschoben waren, lief der Angriff über die rechte Seite. Gleichzeitig hatte sich die Abwehrkette – bedingt durch die grundsätzliche Asymmetrie des Systems – extrem weit nach rechts orientiert. Dabei fehlten die Pressingauslöser. Es ist grundsätzlich sinnvoll, Räume anzubieten, wenn diese dann direkt zugemacht werden – im Taktikjargon gern als Pressingfalle bezeichnet. In diesem Fall waren die Verteidiger jedoch herausgezogen, ohne Druck auszuüben. Dies führte dazu, dass Vogt und Strompf die Tiefe gegen zwei einlaufende Stürmer absichern mussten, was letztendlich zur Ecke führte.
Heckings Kritik am nicht konsequenten „Durchdecken“ wird hier besonders deutlich: Statt die Asymmetrie für aggressives Pressing zu nutzen, entstanden durch die falsche Staffelung große Räume. Die von ihm angesprochenen „guten Umschaltmomente“ für Darmstadt waren die direkte Folge dieser mangelhaften Abstimmung. Dass Strompf die Situation am Ende als linker Halbverteidiger am rechten Strafraumeck bereinigen musste, illustriert die taktische Desorganisation perfekt. Besonders aufschlussreich ist die Diskrepanz zwischen Heckings Vorbereitungseinschätzung und der Realität.
„Wir waren im Defensivverhalten schon weiter, waren schon viel konsequenter im Durchdecken.“
Dieter Hecking (Quelle: VfL Bochum)
Aufbauspiel scheitert an individueller Qualität und gutem Darmstädter Pressing
Ein weiteres heißes Diskussionsthema in den Fan-Foren war das Aufbauspiel.
„Was mir nicht einleuchten will ist, dass wenn du merkst, dass du gut angelaufen wirst, der Vogt in Laufduelle geht anstatt den Ball lang auf die beiden langen Stürmer zu schießen“
Fan-Kritik am Aufbauspiel
Vogt, als zentraler Mann der Dreierkette, konnte seine Qualitäten im Spielaufbau kaum einbringen. Darmstadt hielt das Zentrum meist kompakt, so dass über die Halb- und Außenverteidiger aufgebaut werden musste. Mithilfe der Asymmetrie konnte Vogt etwas nach Außen ausweichen, um Passwinkel zu bekommen und versuchte mit Pannewig einen Verbindungsspieler zu finden. Oft musste er jedoch trotzdem Pässe auf Horn oder Morgalla spielen, die unter Druck oft hektisch waren. Es gab deshalb nur vereinzelt schöne Kombination, wie die von Rösch und Pannewig aus der 3. Minute. Strompf und Wittek hatten auf ihrer Seite ebenfalls große Probleme. Ersterer kam durch die zentralere Position und das gute Anlaufen Darmstadts nicht dazu, seine Dribblings in den Raum zu starten. Letzterer konnte kaum eingesetzt werden, da er zu weit von Quarterbeck Vogt entfernt war.
Die von den Fans geforderten langen Bälle auf die Stürmer hätten das grundlegende Problem nicht gelöst. Horn schlug solche Bälle öfter, sie kamen jedoch selten an oder konnten verarbeitet werden. Die Kompaktheit des Mittelfelddreiecks war nicht nur dabei ein Problem.
„Das zerbrochene Mittelfelddreieck – Wenn der Anker seinen Halt verliert“
Die Probleme im Mittelfeld lassen sich nicht auf einzelne Aktionen reduzieren – sie sind systemischer Natur, da das Mittelfelddreieck weniger als Kette, sondern mehr als Mischung aus Anker und zwei Anläufern direkt hinter den Stürmern interpretiert wurde. Dieses Verhalten wurde besonders problematisch als Rösch sich nach dem 1:1 gegen den Ball in die Fünferkette einordnete. So hatte man vorne zentral 3-4 Spieler, dann sehr viel Raum und hinten eine breite Fünferkette.
Ibrahima Sissokos Positionsspiel war in diesem Kontext besonders problematisch. Für die Größe des zu kontrollierenden Raums war sein Stellungsspiel schlicht ungeeignet. Er pendelte zwischen extremen Positionen: Mal fiel er zu weit zurück, dann wieder schob er ohne taktische Notwendigkeit vor oder zur Seite. Ein Sechser in einem 5-1-2-2 hat eine elementare Aufgabe – er muss konsequent als Anker vor der Abwehr bleiben und von dort situativ zum Ball schieben. Nur so können die gefährlichen Räume kontrolliert werden.
Besonders beim 2:1 wird diese Problematik offensichtlich. Nach einem eigentlich gelungenen Dribbling bleibt er einfach vorne – eine fatale Entscheidung. Der Raum vor der Abwehr, den er eigentlich kontrollieren sollte, liegt nun völlig offen. Was folgt ist ein taktisches Desaster: Auf der einen Seite eine breit gezogene Fünferkette, auf der anderen Seite drei bis vier Spieler, die sich vorne zentral ballen. Dazwischen? Gähnende Leere. Dahinter? Chaos. Vor der Verlagerung fehlt die Abstimmung zwischen Morgalla und Vogt, der sich nach seinem Fehlpass völlig ungerechtfertigt noch aufregt. Morgalla muss deshalb einrücken und Richter wird frei. Obwohl Rösch schnell dazukommt, erfolgt nun die Übergabe zwischen Vogt und Morgalla, wodurch Letzterer weder Mann noch Raum abdeckt. Stattdessen muss Strompf sehr weit einrücken und kommt zu spät gegen Hornbys Kopfball. Lidberg läuft währenddessen Vogt und Morgalla im Rücken davon.
Standards als Offenbarungseid – Wenn Wissen nicht vor Toren schützt
Die Standardschwäche des VfL offenbart sich als perfekte Synthese aus taktischem und mentalem Versagen. „Obwohl wir wussten, dass die am langen Pfosten den Spieler freispielen“, wie Hofmann nach dem Spiel frustriert einräumte, fielen gleich zwei Gegentore nach diesem exakt gleichen Muster. Die Analyse des 3:1 zeigt dabei exemplarisch das Dilemma: Morgallas mangelhafte Zuordnung zu Vukotic war der Knackpunkt, der mit viel Billard und Pech im Tor endete.
Beim 4:1 erreichte das Chaos seinen Höhepunkt: Niemand fühlte sich für Vukotic zuständig, während sich Hofmann und Clairicia beim ballorientierten Verteidigen gegenseitig blockierten.
Zu den Gegentoren kommt die eklatante eigene Standardschwäche, die durch Beros völlig wirkungslose Eckbälle, die immer nur gechippt und völlig ohne Zug kamen, unterstrichen wird. Ein Fan bringt es auf den Punkt: „Wir kündigen sogar noch an wie wir alle Standards spielen“ – eine vernichtende Analyse der eigenen Berechenbarkeit.
„Ich frag mich die ganze Zeit, warum chippen die Darmstädter nicht ihre Ecken alle ans kurze Eck? Das ist doch der unverteidigbare Masterplan.“
Sarkastischer Fan-Kommentar
Fazit und Ausblick
Die Analyse des Saisonstarts offenbart ein komplexes Geflecht aus taktischen und strukturellen Problemen. Die von Hecking gewählte asymmetrische Formation erscheint dabei weniger als grundsätzlicher Fehler, sondern vielmehr als ambitionierter Ansatz für eine Mannschaft, die noch nicht da ist, wo sie gerne sein würde. Die individuellen Qualitäten der Spieler – etwa Röschs Flexibilität und Spielstärke oder Vogts Spielaufbau – passen durchaus zum System. Was fehlt ist die kollektive Abstimmung sowie die individuelle Qualität auf einzelnen Positionen, gerade im Spielaufbau.
Besonders kritisch erscheint die Interpretation der Mittelfeldpositionen. Sissokos schwimmendes Positionsspiel ist dabei symptomatisch für ein Team, das zwischen den Systemen und Aufgaben noch keine klare Identität gefunden hat. Die Standardschwäche auf beiden Seiten des Spielfelds verstärkt den Eindruck einer Mannschaft, der es sowohl an Automatismen als auch an klaren taktischen Abläufen mangelt.
Die gute Nachricht: Viele der beobachteten Probleme sind eher Abstimmungs- als generelle Systemmängel. Mit Colin Kleine-Bekel gibt es eine Alternative. Mit zunehmender Spielpraxis könnte das Team die komplexen taktischen Anforderungen besser umsetzen. Die schlechte Nachricht: In der 2. Bundesliga bleibt dafür wenig Zeit. Hecking muss nun entscheiden, ob er an seinem ambitionierten System festhält oder für die nächsten Spiele vereinfachte taktische Lösungen wählt. Die Partien gegen die stark gestarteten Elversberger und Schalker werden dabei zum Charaktertest für Team und Trainer.
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