Der VfL Bochum und die Renaissance der engen Raute

Foto: VfL Bochum

Die neue Saison steht vor der Tür. Am Sonntag startet unser VfL Bochum gegen Jahn Regensburg im DFB-Pokal in die Spielzeit 2024/25. Mit Peter Zeidler steht ein neuer Mann an der Seitenlinie und es scheint ganz so, als würden wir unsere Jungs in ganz ungewohnter Formation sehen. Der VfL Bochum und die Renaissance der engen Raute.


VfL Bochum und die Rückkehr zur Raute: Eine Analyse des 4-4-2 mit enger Raute

Mit Beginn der neuen Saison zeichnet sich beim VfL Bochum eine taktische Neuausrichtung ab. Trainer Peter Zeidler scheint auf ein klassisches 4-4-2 mit enger Raute zu setzen, eine Formation, die im modernen Fußball selten geworden ist, aber gerade deshalb interessante strategische Möglichkeiten bietet. Natürlich hat man sich im Laufe der Vorbereitung nicht nur strikt auf dieses eine System eingeschossen. Auch ein Flügel-lastiges 4-3-3 wurde immer wieder gespielt. Doch zeichnete sich in den letzten Wochen immer mehr ab, dass die enge Raute die Formation ist, in der die Stärken der aktuellen Kaderzusammensetzung am deutlichsten zur Geltung kommen. De Wit, Sissoko, Bero, Losilla, Daschner – alles Spieler, die ihre Stärken im Zentrum haben. Dazu mit Boadu und Hofmann zwei Spieler, die ebenso gut als Doppelspitze agieren können. Was zeichnet die enge Raute aus, welche Vor- und Nachteile hat sie und wie unterscheidet sie sich vom 4-2-3-1, dass wir hauptsächlich in den letzten Jahren beim VfL gesehen haben?

Charakteristik des 4-4-2 mit enger Raute

Das 4-4-2 mit enger Raute ist eine Variante des klassischen 4-4-2, bei der das zentrale Mittelfeld in Form einer Raute aufgestellt ist. Anstelle von zwei breiten Außen- oder Flügelspielern wie beim flachen 4-4-2 gibt es in dieser Formation einen defensiven Mittelfeldspieler (“6er”), zwei zentrale Mittelfeldspieler (“8er”) und einen offensiven Mittelfeldspieler (“10er”). Diese Spieler bilden zusammen eine Raute, die eng im Zentrum des Spielfeldes agiert. Mit den bereits oben genannten Sissoko (6er), Bero (8er), De Wit (8er und 10er), Daschner (10er) und Losilla (6er und 8er) hat man fünf starke Spieler für die vier Stammpositionen. Dahinter geben Trainer Zeidler junge Spieler wie Jahn, Elezi und Pannewig weitere Möglichkeiten. Sollte Kwarteng sich nach seinen Verletzungen körperlich endlich stabilisieren, dürfte er auch ein Kandidat für den erweiterten Stammspielerkreis auf der 10 und im Sturm werden.

Quantitativ und qualitativ hat man für das angestrebte System einen vielseitigen Kader zusammen mit unterschiedlichsten Spielertypen. Was fehlt? Auf dem ersten Blick ein kreativer Kopf. Hier hat Daschner bisher ein gewisses Alleinstellungsmerkmal. Die Formation ist durch mehr und kürzere Passwege im Spiel weniger abhängig von einem zentralen Spielgestalter, wie wir ihn in Form von Kevin Stöger in den letzten zwei Jahren in Bochum gesehen haben. Trotzdem kann ein kreativerer 8er oder 10er hier auch ein Element sein, um die Berechenbarkeit des Bochumer Spiels zu reduzieren. Es würde als nicht überraschen, sollte der VfL hier noch nachlegen.

Foto: VfL Bochum

Die Außenverteidiger sind ebenso ein zentraler Bestandteil dieser Formation. Auf Wittek und Passlack kommt vor allem läuferisch einiges zu. Natürlich werden die 8er und ggfs. auch der 10er aus der Raute im Mittelfeld immer mal wieder in Flügelräume abkippen oder ausweichen. Dadurch, dass die Außenverteidiger allerdings nominell die einzigen Flügelspieler in dieser Formation sind, sorgen sie eben fast „alleine“ für die Breite im Spiel. Eben auch einer der Gründe, warum Bernardos Profil als Außenverteidiger immer als nicht ganz ideal beschrieben wird mit Blick auf die neue Saison. Der Brasilianer ist unzweifelhaft eine Bank gewesen in der letzten Spielzeit – alle Statistiken zeigen das. Nach vorne ist er allerdings deutlich schwächer als beispielsweise ein Wittek. Ein mögliches Bottleneck bei der Verantwortung, die den Außenverteidigern auch offensiv im neuen System übertragen wird.

Stürmer sollen Tore schießen – aber eben nicht nur. Neben dem Tore schießen müssen Hofmann und Boadu auch die gegnerischen Verteidiger beschäftigen und das Pressing einleiten. Wie bei den Außenverteidigern kommt auch auf unsere Stürmer einiges an Laufarbeit zu. Mit Hofmann und Boadu hat man (voraussichtlich) für die erste Elf eine starke Besetzung mit zwei völlig unterschiedlichen Profilen. Hofmann als klarer, kopfballstarker Zielspieler. Boadu als bewegliches Element für Tiefenläufe und ausweichende Bewegungen, um das Spiel in die Breite zu ziehen. Broschinski verkörpert irgendetwas dazwischen und dürfte nach stark ansteigender Form gegen Ende der Vorbereitung eine echte Alternative auch für die erste Elf sein. Es würde auch nicht verwundern, wenn wir De Wit im Laufe der Saison ebenso mal auf der Stürmer-Position sehen werden – zumindest im Verlauf von Spielen. Unser Neuzugang ist kopfballstark und dürfte im Fall der Fälle neben Hofmann agieren, sollte man die Brechstange auspacken müssen.

Foto: VfL Bochum

Aber was sind denn nun die Vorteile der engen Raute?

Vorteile des 4-4-2 mit enger Raute

  1. Zentrumskontrolle: Einer der größten Vorteile der engen Raute ist die Dominanz im Zentrum des Spielfeldes. Durch die enge Anordnung der Mittelfeldspieler kann die Mannschaft im Zentrum Überzahlsituationen schaffen, die es dem Gegner erschweren, durch das Zentrum zu spielen oder dort Zugriff zu erlangen.
  2. Kompaktheit: Die Formation ist von der Struktur her sehr kompakt, was die Verteidigung erleichtert. Die kurzen Abstände zwischen den Spielern erleichtern das Verschieben und das Schließen von Räumen, wodurch der Gegner fast schon gezwungen ist, über die Flügel anzugreifen.
  3. Flexibilität im Angriff: Mit zwei Stürmern, einem offensiven Mittelfeldspieler und Vorstößen der Außenverteidiger und Achter bietet die enge Raute eine Vielzahl an Angriffsmöglichkeiten. Die Stürmer und Achter können sich in verschiedene Richtungen bewegen, während der “10er” die Freiheit hat, zwischen den Linien zu agieren und Lücken zu nutzen.

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„Everything comes at a price“ – Das trifft auch auf den Fußball und die enge Raute zu. Wo sind die klaren Nachteile dieser Ausrichtung?

Nachteile des 4-4-2 mit enger Raute

  1. Schwäche auf den Flügeln: Da die Formation auf ein kompaktes zentrales Mittelfeld konzentriert ist, sind die Flügel oft un(ter)besetzt. Dies kann dazu führen, dass der Gegner die Außenbahnen leicht für Angriffe nutzen kann, insbesondere wenn die Außenverteidiger überlaufen werden, wenn sie die oben beschriebenen offensiven Aufgaben erfüllen und hoch nach vorne geschoben positioniert sind. Gerade mit verhältnismäßig langsamen Innenverteidiger und Achtern, wie wir sie im Kader haben, kann das gefährlich werden.
  2. Hohe Anforderungen an die Außenverteidiger: Wie oben bereits erwähnt, kommt auf die Außenverteidiger einiges an Arbeit zu. Neben einer großen Ausdauer brauchen diese eine gewisse Vielseitigkeit. Sie müssen nicht nur defensiv absichern, sondern auch nach vorne schieben, um Breite ins Spiel zu bringen. Dies kann vor allem gegen Mannschaften mit starken Flügelspielern zu Problemen führen. Bei Wittek haben wohl die wenigsten Bauchschmerzen, dass er das auf seiner linken Seite spielen kann. Bei Passlack gibt es allerdings doch immer mal wieder Fragezeichen, ob er defensiv dieser Rolle gewachsen ist. Offensiv hat Passlack vor allem im Saisonendspurt gezeigt, dass er eine echte Bereicherung sein kann. Die Defensive ist allerdings bisher nicht seine Paradedisziplin gewesen.
  3. Vorhersehbarkeit: Da sich die Formation stark auf das Zentrum fokussiert, kann das Spiel leicht vorhersehbar werden. Gegnerische Mannschaften können sich darauf einstellen und ihre Defensivstrategie entsprechend anpassen, indem sie das Zentrum schließen und das Spiel in weniger gefährliche Zonen lenken. Wie am Anfang des Artikels bereits erwähnt, wäre hier ein kreativer Kopf ein Ausweg aus diesem Dilemma. Ein Spieler, der die Mannschaft aus dieser Vorhersehbarkeit des Systems befreit. Alternativ wäre ein starkes Ingame-Coaching durch Zeidler und sein Team eine andere Möglichkeit, so kann er bspw. auf das in der Vorbereitung immer mal wieder gespielte 4-3-3 ausweichen und Lücken, die durch das „auflösen“ unseres System entstehen, konsequent nutzen.

Unterschiede zum 4-2-3-1

Das „klassische“ 4-2-3-1 war in den letzten Jahren die Standard-Formation bei unserem VfL. Klar, es gab immer wieder Abweichungen, klares Überladen einer Seite, Asymmetrien, aber die Grundausrichtung war immer recht ähnlich. Wo sind denn nun im VergIeich zur engen Raute die größten Unterschiede?

  1. Breite im Mittelfeld: Wie schon erwähnt kann die fehlende Breite bei der engen Raute zum Problem werden, wenn die Außenverteidiger nicht nach vorne schieben. Im 4-2-3-1 wird die Breite durch die beiden klassischen Flügelspieler gewährleistet, die Räume auf den Außen in klassischer Ausrichtung deutlich prägnanter besetzt.
  2. Defensive Stabilität: Das 4-2-3-1 hat mit den beiden defensiven Mittelfeldspielern (die „Doppelsechs“) eine auf dem Papier hervorragende defensive Absicherung, insbesondere gegen schnelle Konter. Hier ist aber immer noch entscheidend, welche Spielertypen auf der Doppel-6 eingesetzt werden. In Vergangenheit funktionierte genau diese Absicherung vor allem bei einer raumorientierten Spielweise eher weniger gut bei uns, was am Fehlen eines klassischen 6ers lag. Toto konnte durch fehlende Geschwindigkeit, die ihm zugeteilten Räume oft nicht mehr vollends abdecken, weswegen die Innenverteidiger regelmäßig zu aggressivem Rausrücken gezwungen waren und das ein oder andere Mal große Lücken in der Verteidigung gerissen wurden. Bero ist auch kein 6er und war mit seinen hervorragenden Tiefenläufen auch eher eine Reihe weiter vorne zu finden. Prominent war diese Diskussion im letzten Jahr auch beim FC Bayern, als Tuchel vehement die „Holding 6“ forderte. Mit Sissoko haben wir nun diesen Spielertypen im Kader. Sollte man im Laufe der Saison doch mal wieder zu einem 4-2-3-1 switchen, könnte man die Doppel-6 hier vermutlich auch deutlich harmonischer besetzen als im letzten Jahr.

    Foto: VfL Bochum
  3. Offensive Optionen: Im 4-2-3-1 agiert der offensive Mittelfeldspieler (die „10“) hinter einer einzelnen Spitze, aber neben zwei weiteren Offensiven, was bedeutet, dass der Zehner sich freier bewegen kann und immer noch drei Offensive übrig bleiben. Die Rolle, die Stöger bei uns gespielt hat, ist beispielhaft dafür. Der Österreicher ließ sich gerne nach hinten fallen oder wich auf die Flügel aus. Er war zwar auch aufgrund seiner Spielweise deutlich das lenkende Element in unserem Spiel, hatte aber viele Freiheiten. Im 4-4-2 mit Raute ist die Rolle des Zehners definierter. Er ist zentrales Verbindungselement zwischen den 8er und den Stürmern mit klarer definierten Aufgaben und weniger Freiheiten. Das dürfte einem Daschner, der ein etwas anderer Spielertyp als Stöger ist, sehr entgegen kommen.

 

Fazit

Immer wieder gab es in den letzten Wochen Diskussionen, wie groß die Lücken im Kader sind. Ideal besetzt ist die Mannschaft nicht – zumindest gemessen an dem, was wir in den letzten Jahren gespielt haben. Das 4-4-2 mit enger Raute bietet uns allerdings eine Möglichkeit, die Stärken des aktuellen Kaders besonders auszuspielen, insbesondere durch die systembedingte Dominanz im Zentrum und die Flexibilität im Angriff. Gleichzeitig kann die verhältnismäßig schwache Besetzung der Flügel im Kader gut kompensiert werden. Allerdings erfordert diese Formation disziplinierte Außenverteidiger mit „Pferdelunge“ sowie ein starkes Verständnis der zentralen Spieler über die zu besetzenden Räume, um ihre Vorteile voll auszuschöpfen. Dass die Mannschaft sich langsam zu finden scheint und Vertrauen in das System gewinnt, dafür sprechen die guten Ergebnisse am Ende der Vorbereitung. Bologna und Le Havre sind kein Fallobst und unsere Elf konnte hervorragend aufspielen. Nehme man dazu noch die sich abzeichnende Bewegung im Kader hinsichtlich Ab- und Zugängen könnte man am Ende recht spät im Transferfenster doch einen sehr ordentlichen Kader für das präferierte System zusammen haben. Denn das Gerüst steht alle mal und macht Lust auf mehr.

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Autor: Claudio Gentile

Als gebürtiger Bochumer wurde ich das erste Mal im zarten Alter von sechs Jahren ins Ruhrstadion geschleppt. Der VfL verlor. Was auch sonst. Trotzdem ließ mich der Verein nicht mehr los und spätestens als ich ein paar Tage nach meinem ersten Stadionbesuch das legendäre Papagei-Trikot mit einem "Peter Peschel"-Flock überstreifen durfte, war es um mich geschehen. Das ist jetzt 26 Jahre, wenig Siege und viele Niederlagen her. Wo die Liebe im Fußball hinfällt, kann man sich ja bekanntlich nicht aussuchen. Und eine Liga kennt Liebe auch nicht.

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